Das Leben kleben
mit sich fort.«
Die Samen, die Artems Schlitten gefunden hatten, kamen aus Lappland. Als Händler und Banditen zogen sie über das Eis nach Süden, um geräucherten Fisch, Rentierfleisch und Felle gegen Weizen oder Tabak oder Wodka zu tauschen, oder was sie sonst so fanden. Als sie Artem unter den Wolfsfellen entdeckten, diskutierten sie, ob sie ihn umbringen sollten; aber dann öffnete er die Augen, und er lächelte, weil er lebte, und begann ein russisches Bauernlied zu singen.
»Otschi tschornye, otschistrastnye ...«
Mrs. Shapiros Stimme zitterte. »Eine wunderschöne Weise über die Liebe zu einer Frau mit schwarzen leidenschaftlichen Augen. Er sang es oft.«
Das Lied rettete ihm das Leben. Die schwache, krächzende Stimme des verwundeten Soldaten brachte die Samen zum Lachen, und so nahmen sie ihn mit in ihr Dorf mitten in der schneebedeckten Wildnis jenseits des nördlichen Polarkreises, wo der weiße Horizont mit dem weiten bleichen Himmel verschmolz. Erst wurde er wie ein Gefangener behandelt, dann wie eine exotische Attraktion und schließlich wie eine unerschöpfliche Quelle der Unterhaltung.
Er lebte mehrere Monate bei ihnen, auf einem Bett aus Tierfellen in der Ecke einer fischigen, verrauchten, schneebedeckten Hütte, wo er Rentierfleisch aß und irgendeinen grässlichen Kräutersud trank, den sie ihm auch auf die Wunde träufelten. Immer wenn er ein paar Becherchen getrunken hatte, fing er zu singen an - jüdische Lieder aus seiner Kindheit in Orscha, Partisanenlieder aus der Zeit in den Wäldern, russische Volkslieder, sogar ein paar Arien. Die Männer schlugen sich auf die Schenkel und warfen lachend die Köpfe zurück. Die Frauen kicherten und verkrochen sich in ihren Pelzen, während sie ihn mit ihren seltsamen Katzenaugen neugierig ansahen. Nachts betrachtete er das geheimnisvolle farbige Licht am Himmel und versuchte anhand der Sterne seinen Aufenthaltsort zu ermitteln. Als er vollständig genesen war und am südlichen Horizont fleckiges Licht für ein paar Stunden am Tag den Himmel aufzubrechen begann, boten ihm die Samen an, ihn zurück nach Russland zu bringen. Doch er erklärte ihnen mit Gesten, dass er lieber in die andere Richtung wollte, nach Schweden. Also brachten sie ihn an eine Stelle, von der aus das nächste samische Dorf jenseits der schwedischen Grenze zu sehen war, gaben ihm einen kleinen Schlitten und eine Tasche mit getrocknetem Fisch und schickten ihn seiner Wege.
»Er hat nach seiner Schwester gesucht. Doch sie war fort. Vielleicht ist sie nie da gewesen. Zu jener Zeit war Schweden voller Juden, die vor den Nazis flohen. Jeder suchte irgend wen, oder brachte Neuigkeiten von irgend wem.«
»Haben Sie ihn dort kennengelernt? Sind Sie auch nach Schweden gegangen, Mrs. Shapiro?«
Sie wollte etwas sagen, doch dann brach sie ab. Eine traurig aussehende Frau hatte den Aufenthaltsraum betreten und zog einen Tropf an einem Ständer hinter sich her. Wir beobachteten sie einen Moment schweigend, dann flüsterte Mrs. Shapiro mir zu: »Das reicht für heute. Jetzt sind Sie dran, Georgine. Dieser Ehemann - warum ist er davongelaufen? Gab es eine andere?«
Die Frau mit dem Tropf suchte nach der Fernbedienung. Ich zögerte. Ich wollte nicht zu sehr in die Details von Dübeln und Zahnbürstenhalter gehen und sagte: »Ich glaube nicht. Er sagte, es gäbe keine andere. Er war zu sehr auf seine Arbeit fixiert.«
Mrs. Shapiro sah mich skeptisch an. Offensichtlich gefiel ihr die Hypothese mit der »anderen« besser. »Warum glauben Sie das?«
»Er hatte immer diese großen Ideen. Er wollte die Welt verändern. Ich glaube, das häusliche Leben hat ihn einfach gelangweilt.«
Da, jetzt war es raus. Es tat gut, die Sache in Worte zu fassen. Mrs. Shapiro rümpfte die Nase.
»Ach so. Die typische Geschichte. Er will die Welt verändern, aber er will keine Windeln wechseln, nich wahr?«
»So ähnlich. Unsere Kinder waren schon aus den Windeln raus.« Ich wollte ihr sagen, dass es gerade sein umtriebiger, wissbegieriger Geist war, der ihn einst zu mir geführt hatte. »Als wir uns kennenlernten, war ich anders als alle, die er kannte. Er nannte mich seine redselige Yorkshire-Rose.«
»Keine Sorge, meine Georgine.« Sie grinste fröhlich. »Reden ist gesund.«
Die Frau mit dem Tropf war in einen Sessel gesunken und betrachtete kummervoll die Flüssigkeit in dem Infusionsbeutel, die aussah wie dünner Tee. Mrs. Shapiro warf ihr einen verächtlichen Blick zu.
»Zu viele Kranke hier.« Sie
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