Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
verunsichert hinterm Steuer saß, uns zur Schulklinik zu fahren. Die anderen Mädchen verließen widerwillig den Bus, und ich wurde zur Klinik gebracht. Dort bekam ich ein Beruhigungsmittel, und man beschloss, mich über Nacht dazubehalten. Miss Flint blieb so lange bei mir, bis ich eingeschlafen war.
Was meine Lieblingslehrerin der Schulleitung über meinen Tränenausbruch erzählte, habe ich nie erfahren. Jedenfalls behielt man mich fünf Tage in der Klinik. Und diese Zeit schien ich tatsächlich zu brauchen, denn ich erinnere mich noch, dass ich am ersten Morgen völlig erschöpft aufwachte und in den folgenden Tagen nur schlief. Es hieß, mein Zusammenbruch sei eine verspätete Erschöpfungsreaktion auf die schwierige Situation bei mir zu Hause gewesen. Miss Flint wollte meinen Vater kommen lassen, ich aber war dagegen, weil ich mich scheute, mit ihm über meine Probleme zu sprechen.
Miss Flint besuchte mich jeden Tag. Ich erfuhr, dass Mrs. Wanjohi, unsere Schulleiterin, erstaunt und schockiert auf das Vorgefallene reagiert hatte. Kein Wunder, sie kannte mich nur als fröhliche, lebendige, extrovertierte Schülerin, die vor nichts zurückschreckte und immer mitten im Geschehen war. Als ich schließlich zum Unterricht zurückkehrte, halfen mir alle, wieder Fuß zu fassen. Nur Miss Doyle mied mich, so gut sie es vermochte. Im Grunde tat sie mir leid. Wie sollte ich ihr erklären, dass ich nicht wegen ihr so heftig geweint hatte, sondern wegen allem, was in den vergangenen Jahren in meinem Leben passiert war. Dazu zählten auch die Erlebnisse bei meinem Onkel Odima, bei dem ich um Obdach bitten musste.
8
Erneute akute Geldnöte hatten meinen Vater gezwungen, unser Haus in Woodley aufzugeben, in dem wir etwa acht Jahre lang zur Miete gewohnt hatten. Nun waren wir ohne Bleibe und darauf angewiesen, bei Verwandten und Freunden unterzukommen. Für unsere Sachen war nirgends Platz. Vieles ging damals verloren, die Schallplatten mit der klassischen Musik, die mein Vater so liebte, auch Bücher, Gemälde, Kleidung und Küchenutensilien. Wir Kinder sahen mit an, wie unser Zuhause zerbrach – und konnten nichts dagegen tun.
Als die nächsten Ferien begannen, brachte mich mein Vater direkt von der Schule nach Ngara, in den Stadtteil, in dem mein Onkel Odima mit seiner Familie lebte. Bei ihm sollte ich die nächsten Wochen verbringen.
Onkel Odima, den ich später »Supa-Soda« nannte, da er jahrelang bei dem Getränkekonzern arbeitete, war als Jugendlicher nach Nairobi gekommen. Mein Vater hatte damals eine Schule für ihn gefunden und die Zahlung seines Schulgelds übernommen. Er ließ ihn bei uns wohnen, bis er das Gymnasium abgeschlossen hatte. Jahre später standen mein Vater und ich nun bei ihm vor der Tür. Kaum hatten wir das Haus betreten, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Anspannung lag in der Luft, die Stimmung in dem kleinen Wohnzimmer war erdrückend. Onkel Odimas Frau Katherine, die ich schon von früher kannte, lächelte nicht, als sie mir – deutlich widerwillig – die Hand gab. Ganz offensichtlich war sie keineswegs über meine Anwesenheit erfreut. Ich kam mir vor wie ein Eindringling.
Das Verhalten meiner Tante mir und meinem Vater gegenüber war allzu deutlich. Nach außen hin ließ mein Vater sich aber nicht davon stören, sondern benahm sich, als sei er zu Hause. Im Nachhinein nahm ich an, dass er das für mich tat. Er wusste genau, dass Katherine uns nicht bei sich haben wollte. Aber er brauchte für mich unbedingt eine sichere Bleibe.
Onkel Odima war noch nicht zu Hause, als wir eintrafen. Sobald er von der Arbeit käme, würde alles gut werden, dachte ich. Sicher würde er seine Frau zurechtweisen und von ihr verlangen, uns, seine engsten Verwandten, mit dem nötigen Respekt zu behandeln. Schließlich hatte er jahrelang bei uns gewohnt. Er würde sich daran erinnern, dass mein Vater damals für all seine Kosten aufgekommen war und ihm seine heutige Arbeitsstelle verschafft hatte. Interessanterweise hatte mein Onkel sogar den Namen meines Vaters angenommen, weil er wusste, dass sich damit verschlossene Türen für ihn öffnen würden. Als Bonifus Odima Obama genoss er sämtliche Vorteile, die anfangs mit dem Namen »Obama« verbunden waren.
Doch als er an diesem Abend in Ngara nach Hause zurückkehrte und in der Tür seines kleinen Wohnzimmers stand, schien er all das vergessen zu haben. Bei unserem Anblick wirkte er genauso irritiert wie seine Frau. Er
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