Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
oder Tante Jane blieb ich in der Erdgeschosswohnung, in der es dunkel und kühl war. Sie hatte einen winzigen Balkon, der aufgrund der Hanglage des Hauses nach hinten hinausging. Stundenlang stand ich dort und blickte auf den Nairobi River, eine bräunlich verschmutzte Brühe, die zäh dahinfloss. Auf unserer Seite bestand das Ufer hauptsächlich aus wucherndem Schilf und Müll. Am anderen Ufer wuchsen Mais und Sukuma Wiki, eine in Kenia weit verbreitete Kohlsorte. Aber auch dort lag überall Dreck herum. Den Kohl bauten Leute an, die am Ufer in ärmlichen Hütten aus Wellpappe und Plastik hausten.
Die trostlose Landschaft vor meinen Augen passte nur zu gut zu meiner inneren Landschaft. Auch dort sah es grau und hoffnungslos aus. Trotzdem beneidete ich die Armen auf der anderen Flussseite um ihr Zuhause. Ich bildete mir ein, inmitten ihrer Armut hätten sie trotz allem intakte Familien. Doch zugleich war mir bewusst, welch ein Elend mit dieser Mittellosigkeit verbunden sein musste. Ich dachte an meinen Vater, der, obwohl er nicht in einer dieser Papphütten lebte, nun auch arm war. Und dass die Verzweiflung, die aus Armut erwuchs, nicht zu unterschätzen war, spürte ich ebenfalls. Deswegen war ich ängstlich, aber auch traurig: Diesen Menschen ging es viel schlechter als mir.
Als ich eines Tages wieder auf dem kleinen Balkon war und über den Fluss schaute, überfiel mich das entsetzliche Gefühl, dass es nie wieder bergauf gehen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es meinem Vater jemals gelingen sollte, einen Ausweg aus unserer Misere zu finden. Wie sehr er sich auch bemühte, er bekam und bekam keine Arbeit. (Damals hatte ich keine Ahnung, wie eng dieser Überlebenskampf mit politischen Machtkämpfen verbunden war.) Für mich rückten die Schulprüfungen näher, und hier bei meinem Onkel, in dieser bedrückenden Wohnung, war ich unfähig zu lernen. Ich fror ständig – im August war es in Nairobi bei Temperaturen teils um die 10 Grad ohne Heizung sehr kalt –, hatte immer Hunger und fühlte mich isoliert und alleingelassen. Ich blickte hinunter zum Fluss. Der Balkon schwebte aufgrund der Hanglage über der Erde. Und beim Blick in die Tiefe durchzuckte mich plötzlich der Wunsch hinunterzuspringen, um zu sehen, was geschehen würde. Vielleicht würde ich ja verunglücken, dachte ich naiv, damit hätte alles Leid ein Ende. Zum Sterben lag der Balkon wohl doch zu dicht über dem Erdboden. Aber in diesem Moment wollte ich nur, dass alle Schmerzen aufhörten.
Genauso schnell, wie die verzweifelte Vision aufgetaucht war, schrak ich vor ihr zurück. Rasch trat ich wieder in das dunkle Wohnzimmer, vor meinen eigenen Gedanken fliehend, und machte mich daran, dem Dienstmädchen bei der Vorbereitung des Abendessens zu helfen.
Trotz aller familiären Probleme schaffte ich das Abitur und bekam eine Zulassung für die Kenyatta University, an der ich Kunst und Pädagogik studierte. (Germanistik konnte man damals nicht an der Universität studieren.) Eigentlich wollte ich gar nicht in Kenia studieren, denn schon in der Schule hatte ich begonnen, mich um ein Auslandsstipendium zu bewerben. Und da in unserem Abiturjahr nur vier Schülerinnen Deutsch lernten, war ich zuversichtlich, was die finanzielle Unterstützung betraf. Als Schülerinnen wurden wir häufig zu deutsch-kenianischen Veranstaltungen und Cocktailpartys eingeladen. Dort sprach ich mit vielen Leuten über meinen Wunsch, in einem deutschsprachigen Land zu studieren und vor Ort meine Deutschkenntnisse zu verbessern.
Auf einer dieser Partys lernten wir Deutschschülerinnen Munyi Wayaki kennen, den Minister für Auswärtige Angelegenheiten. Er war beeindruckt von unseren konkreten Zukunftsplänen und versprach uns, nach Fördermöglichkeiten Ausschau zu halten.
Mehrmals suchten wir ihn in seinem Ministerium auf. Von dort aus schickte er uns zu verschiedensten Leuten mit der Bitte, sie möchten uns behilflich sein. Doch obwohl wir viele einflussreiche Persönlichkeiten trafen – Botschafter, Minister, Geschäftsleute –, ergaben unsere Bemühungen nichts.
Ich war schon ein Jahr an der Kenyatta University immatrikuliert, als ich schließlich durch eigene Initiative ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes ( DAAD ) bekam. Meine enge Freundin Trixi, eines der vier Mädchen, mit denen ich an der Kenya High Deutsch lernte, folgte mir ein Jahr später, ebenfalls mit einem DAAD -Stipendium.
Trixi stammte aus Tansania und war ein paar
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