Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
wir vor trug er in meinen Augen die Schuld daran. Immer wieder hatte ich versucht, ihm zu zeigen, ihm zu erklären, wie sehr ich unter der Trennung von meiner Stiefmutter und den Folgen für unser Familienleben gelitten hatte. Aber jedes Mal hatte ich das Gefühl gehabt, er wollte nicht zuhören. Nie hatte er Zeit gehabt, sondern stets so getan, als sei alles in Ordnung. Er hatte uns und vielleicht auch sich selbst nie gefragt, wie es uns Kindern wirklich ging.
Das alles erzählte ich meinem Vater. Er sagte nichts. Er versuchte nicht einmal, sich zu verteidigen. Und irgendwann wusste wiederum ich nichts mehr zu sagen. Ich war physisch und psychisch erschöpft, und ihm erging es wohl ebenso. Denn als ich aufstand, um zu gehen, hielt er mich nicht zurück. Er sagte nur: »Weißt du, dass ich stolz auf dich bin?« Ich murmelte irgendetwas und verließ den Raum.
Wir hatten ausgemacht, dass mein Vater in meinem Zimmer übernachten und ich bei Elke auf dem Boden schlafen würde. Am nächsten Tag erwachte ich erschöpft aus einem unruhigen Schlaf. Ich machte uns Frühstück, und wir nahmen es gemeinsam mit meiner Freundin ein. Viel Zeit blieb nun nicht mehr; mein Vater musste los, um seine Maschine nach Moskau noch zu bekommen. Ich bestellte uns ein Taxi, denn ich wusste, dass es unhöflich gewesen wäre, ihn nicht zum Flughafen zu begleiten.
Der Besuch meines Vaters war viel zu kurz gewesen, um die Schwierigkeiten und das viele Unausgesprochene, das zwischen uns stand, zu verarbeiten. Zwar war meine Angst vor ihm geringer geworden, aber die Distanz bestand fort. Als ich ihn auf dem kleinen Saarbrücker Flughafen in die Maschine steigen sah, wurde mir schwer ums Herz. Ich wäre ihm so gern näher gewesen, aber es ging nicht. Die dicke, schützende Hülle, mit der ich mich schon vor langer Zeit gegen Schmerz und Enttäuschung gewappnet hatte, ließ sich nicht durchbrechen.
Mir war nach Weinen zumute, aber meine Augen blieben trocken. Mein Vater, dieser große Mann, wirkte auf einmal klein, kaum größer als ich selbst. Beklommen verließ ich den Flughafen und wusste, dass es einige Tage dauern würde, bis ich mich wieder gefasst hatte.
13
Für das männliche Geschlecht hatte ich mich bisher noch nicht so richtig interessiert. Ich kam aus einer Familie, in der die Männer deutlich in der Überzahl waren, und hatte die Erfahrung gemacht, dass Frauen und Mädchen nicht als gleichwertige Partner behandelt wurden. Sicher war dies einer der Gründe, warum ich mich von diesem Teil der Menschheit fernhielt. Zudem wusste ich, wenn ich mich vor der Heirat mit jemandem einließ und »etwas passierte«, würde mein Vater mich verstoßen. Er hatte es mir oft genug angedroht. Wieder und wieder hatte er mich gefragt, ob ich immer noch sein »braves Mädchen« sei. Ich murmelte dann jedes Mal etwas Unverständliches. Es ärgerte mich, und es war mir peinlich, dass er auf diese Weise herausfinden wollte, ob ich bereits mit einem Jungen geschlafen hatte. Mir wäre es lieber gewesen, er hätte mich gezielt danach gefragt, oder, besser noch, mich eindeutig über die männliche Sexualität aufgeklärt. Doch wie so viele Väter übertrug er seine eigene Angst davor, seine Tochter könne schwanger werden, auf mich und ließ mich mit der Furcht, dass etwas passieren könnte, allein.
Dabei hätte er sich keine Gedanken zu machen brauchen. Denn ich vermied ganz von selbst jede nähere Beschäftigung mit Jungen. Als ich an der Kenyatta University zu studieren begann, behandelte ich meine männlichen Mitstudenten lediglich als Kommilitonen. Nicht nur aus Angst vor einer Schwangerschaft, sondern auch, weil ich mich nicht für besonders attraktiv hielt.
Als ich nach Deutschland kam, änderte sich daran zunächst nichts. In Saarbrücken gab es – neben Peter – ein paar Studenten, die ein Auge auf mich geworfen hatten. Meistens machte Elke mich darauf aufmerksam, ich selbst war offenbar zu blind, es zu sehen. Wenn ich doch einmal so etwas wie einen Annäherungsversuch wahrnahm, wehrte ich ihn ab. Ich glaubte einfach nicht, dass sich ein Mann für mich interessieren konnte.
Amor brauchte in meinem Fall einfach noch etwas Zeit. Aber als ich mich dann eines Tages in Heidelberg, wo ich nun seit einiger Zeit studierte, verliebte, war es restlos um mich geschehen.
Dieter wurde meine erste große Liebe. Und als unsere Beziehung nach nicht sehr langer Zeit abrupt endete, hinterließ sie bei mir Fassungslosigkeit und lang
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