Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
Freundschaft per Brief und Telefon aufrecht.
Bei diesem Besuch in Carbondale war sie, die eher Ruhige, fast noch aufgeregter als ich über das Treffen mit meinem unbekannten Bruder.
»Ist das nicht toll, dass ihr euch endlich kennenlernen werdet?«, hatte sie seit meiner Ankunft schon mehrmals gesagt.
»Ich hoffe, es wird toll sein.« Ich versuchte ihr nicht zu zeigen, wie nervös ich selbst war. »Hoffentlich ist er nicht doof. Stell dir mal vor, wir haben uns nichts zu sagen?«, spekulierte ich.
»Das glaube ich nicht. Seinen Briefen nach zu urteilen, werdet ihr euch bestimmt bestens verstehen.«
Elke hatte den Satz gerade beendet, da klatschte sie in die Hände.
»Mensch!«, rief ich erschrocken. »Was war das denn!«
»Ein Moskito! Aber ich hab ihn erwischt!«, rief sie vergnügt. Sie zeigte mir ihre offene Handfläche, auf der ein kleiner, bräunlicher Blutfleck zu sehen war.
»Iiih! Ich dachte, die kommen hier nicht mehr vor.«
»Doch! Nur Malaria gibt es nicht mehr. Und sie beißen auch noch, nur krank wird man nicht mehr davon.«
Ich rollte mich auf die Seite und seufzte. »Also, ich weiß nicht, woher du bei dieser Hitze die Energie nimmst, Moskitos zu jagen. Erzähl mir lieber, was ich tun soll, falls ich meinen Bruder nicht mag.«
»Du kommst dann einfach zurück zu mir. So ist es doch sowieso geplant.«
»Und was ist mit der Enttäuschung?«
»Es wird keine Enttäuschung geben. Bleib positiv. Du wirst ihn mögen, ganz bestimmt.«
Und so redeten wir noch bis spät in die Nacht hinein. Die unbarmherzige Hitze hielt sich hartnäckig bis in die frühen Morgenstunden.
Nach zwei Wochen machte ich mich auf den Weg nach Chicago. Wir hatten nun einen neuen Plan und verabredet, dass Elke und ihr Freund Robert am Ende meines Besuchs bei Barack zu uns stoßen würden. Von Chicago aus wollten wir gemeinsam nach Madison, Wisconsin, fahren, um dort einen Heidelberger Studienfreund von mir zu besuchen.
Die Fahrt mit dem Zug nach Chicago dauerte ungefähr sieben Stunden und war ebenso eintönig wie die vorüberziehende Landschaft, in der sich endlose Maisfelder aneinanderreihten. Elke hatte mir wohlweislich geraten, Bücher einzustecken, und so las ich fast die ganze Zeit.
Das Lesen wirkte zum Glück beruhigend. Bislang hatte ich meine Nervosität erfolgreich verdrängt. Jetzt aber stand die Begegnung mit meinem Bruder – der eigentliche Grund meiner Reise – unmittelbar bevor. Es gab kein Zurück mehr. Am Ende dieser Fahrt wartete Barack auf mich. Einmal hatte ich mit ihm telefoniert, seit ich in Illinois war. Nun würde ich zehn Tage bei ihm, dem unbekannten Bruder, in Chicago wohnen, ohne die geringste Ahnung, wie der Besuch verlaufen würde.
Am späten Nachmittag rollte der Zug langsam in Chicago ein. Je weiter wir ins Zentrum vordrangen, desto unsicherer, aber auch aufgeregter wurde ich. Ich fühlte mich überwältigt von der Größe und dem quirligen Treiben der Stadt. Hoffentlich war Barack auch wirklich am Bahnhof, wo er mich abholen wollte. (Er selbst erinnert sich, dass er mich in Chicago vom Flughafen abgeholt hat, aber ich bin tatsächlich mit dem Zug angekommen.) Hoffentlich würden wir uns erkennen. Ich hatte kein aktuelles Foto von ihm dabei. In der Aufregung hatte ich vergessen, ihn danach zu fragen, und ich erinnerte mich auch nicht mehr, ob ich ihm eines von mir geschickt hatte. Das fängt ja gut an, dachte ich nervös.
»Auma.«
Ich schaute auf und blieb sofort stehen.
»Auma, hier!«
Ich wandte den Kopf nach rechts und sah in einiger Entfernung einen jungen Mann stehen, der aufgeregt wirkte und mir zulächelte. Ich lächelte zurück. Das konnte nur Barack sein. Ich rannte auf ihn zu und schlang, ohne lange nachzudenken, meine Arme um ihn. Wir umarmten uns fest, und einige Sekunden sagten wir beide kein Wort. Dann ließen wir einander los und traten beide einen Schritt zurück, um uns gegenseitig zu betrachten.
»Da bist du endlich«, sagte ich schließlich.
»Und da bist du«, erwiderte Barack. »Willkommen in Chicago, Schwester!«
Barack hielt meine Hände und zog mich noch einmal zu sich heran, um mich ein zweites Mal in die Arme zu nehmen. Und ich konnte dabei einfach nicht aufhören zu lachen. Auf diesen Moment hatte ich so lange mit zwiespältigen Gefühlen gewartet, und jetzt fiel auf einmal sämtliche Spannung von mir ab, und alles kam mir so normal und natürlich vor. Ich fühlte mich bei Barack sofort zu Hause.
»Woher hast du gewusst, dass ich es bin?«,
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