Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
fragte Barack.
»Gerade deswegen«, ereiferte ich mich. »Alles, was bei ihm schieflief, mussten wir Kinder, die bei ihm lebten – Abongo und ich –, ausbaden. Vieles haben wir gar nicht verstanden, und für vieles haben wir nie eine richtige Erklärung bekommen.« Ich musste einen Moment innehalten. Wie immer, wenn ich über meinen Vater sprach, stieg ein Gemisch aus Schmerz, Trauer und Enttäuschung in mir hoch. Enttäuschung, weil er gestorben war, ohne dass uns Zeit geblieben war, meine vielen Fragen zu beantworten. Schmerz, weil ich wegen ihm so sehr gelitten hatte, und Trauer, weil ich ihn aus meinem Herz vertrieben und nie die Gelegenheit bekommen hatte, ihn zurückzuholen und ihm unbefangen meine Liebe zu zeigen.
Plötzlich fühlte ich mich überfordert. Ich wusste nicht mehr weiter. Barack wollte mehr über seinen Vater erfahren, ihn besser verstehen und das Phantom, das ihn sein Leben lang begleitet hatte, durch einen Menschen aus Fleisch und Blut ersetzen. Aber ich wusste selbst nicht, ob ich, die mit ebendiesem Menschen meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, ihn jemals begriffen hatte. Wie sollte ich den Widerspruch, den mein Vater für mich verkörperte, Barack so erklären, dass er ihn, anders als ich, nicht verurteilte, sondern die Möglichkeit hatte, ihm Verständnis und vielleicht sogar Liebe entgegenzubringen?
Ich tröstete mich an diesem Abend damit, dass wir noch viele gemeinsame Tage vor uns hatten. Irgendwie würde ich es in dieser Zeit schon schaffen, ihm seine afrikanische Familie, besonders seinen Vater, näherzubringen.
Baracks Mahlzeit war in der Tat köstlich. Ich war begeistert, dass mein Bruder offenbar eine häusliche Seite hatte und ein guter Koch war.
»Unser Vater war jemand, von dem alle zu viel erwarteten«, sagte ich, als wir mit dem Essen fertig waren. »Er verstand es nicht, sich gegen die vielen Ansprüche, die an ihn gestellt wurden, zu wehren. Sein Pflichtgefühl gegenüber der Familie war sehr ausgeprägt. Umgekehrt war das aber leider nicht immer der Fall.«
»Wie meinst du das?«, fragte Barack. Wir saßen jetzt im Wohnzimmer. Während wir aßen, hatte ich versucht, meinem Bruder das Phänomen des Auserwählten zu erklären. Denn es wollte ihm einfach nicht einleuchten, wie man erwarten konnte, dass eine einzige Person die Verantwortung für eine Großfamilie übernahm.
»Ich verstehe, dass das für dich schwer zu begreifen ist«, antwortete ich. »Im Grunde geht es mir ähnlich. Aber unsere Tradition verlangt das nun mal. Es gab Zeiten, da war nicht einmal Schulgeld für mich da, und ich musste zuschauen, wie unser Vater sein letztes Geld für einen Verwandten hergab. Er war immer zuversichtlich, dass wir irgendwie zurechtkommen würden.« Meine Worte hatten gegen meinen Willen verzweifelt geklungen.
»Habt ihr denn nichts dagegen gesagt?«, fragte Barack mitfühlend.
»Nicht wirklich. Als afrikanisches Kind wird man so erzogen, dass man seinen Eltern nicht widerspricht und sie nicht kritisiert. Doch selbst wenn man es wagte, Einwände vorzubringen, antwortete unser Vater immer mit den Worten: ›Ich kümmere mich schon um alles.‹« Ich seufzte. »Es war schwierig mit ihm. Denn genauso, wie er anderen half, erwartete er, dass man auch ihm half, wenn es notwendig war.«
»Und das passierte nicht?«
»Im Vergleich zu seiner Fürsorge kaum«, erwiderte ich.
»Sogar Verwandte, die er viele Jahre unterstützt hatte, waren nicht immer bereit, ihm zu helfen?« Verständnislos blickte Barack mich an.
»Der alte Herr, wie unser Vater immer genannt wurde, war ein Gefangener seiner eigenen Prinzipien. Er wollte nicht von seiner Haltung abrücken, der zufolge man immer, egal in welcher Lebenslage man sich gerade befand, für die Großfamilie zu sorgen hatte. Ich fand, dass dies zu leicht zu Ausbeutung und Abhängigkeit führen konnte. Die, die nichts hatten, fühlten sich nicht wirklich dafür verantwortlich, sich selbst aus ihrer Misere zu befreien.«
Es war schon ziemlich spät, und Barack musste am nächsten Tag früh zur Arbeit. Zwar hatte ich den Eindruck, dass er am liebsten die ganze Nacht durchgeredet hätte, aber er sah müde aus. Und auch ich war müde von dem vielen Erzählen.
»Reden wir morgen weiter, Barack«, sagte ich. »Wir haben noch einige Tage vor uns.« Mit diesen Worten stand ich auf und streckte mich. Mein Bruder zeigte mir, wie ich sein ausziehbares Sofa in ein Bett verwandeln konnte. Bevor er in seinem Schlafzimmer verschwand, umarmte
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