Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
wollten, hat er von dir erzählt. Aus seinen Schilderungen kannte ich dich ziemlich gut. Das meinte ich jedenfalls damals.«
Ich konnte den Ausdruck auf Baracks Gesicht nicht deuten, trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ihn das, was ich gerade gesagt hatte, bewegte.
»Das hat aber nicht genügt«, sagte er schließlich.
Es war Abend und wir waren wieder zurück in Baracks Wohnung. Der Tag war schnell vergangen. Wir hatten viel unternommen, und mein Bruder hatte mir seine Wohngegend gezeigt, damit ich mich, während er arbeiten musste, auch allein zurechtfand. Er zeigte mir das kleine Einkaufszentrum und erklärte mir, wie ich ins Stadtzentrum und zum nicht weit entfernt gelegenen Michigansee kam, an dessen Ufer sich einige Museen befanden.
Wie saßen wieder auf seiner Couch und redeten weiter über unsere komplizierte Familie.
»Vielleicht war es sogar ein Glück, dass du nicht bei ihm aufgewachsen bist. Seine Gegenwart hat dir zwar gefehlt, andererseits konntest du ihn dir aber auch, gerade weil du ihn nicht kanntest, so ausmalen, wie du wolltest. Du brauchtest dich nicht mit ihm auseinanderzusetzen.« Ich begann unser Gespräch mit einer gewagten Vermutung.
»Da hast du recht.« Barack lachte. »Dafür hatte ich meinen Großvater, den Vater meiner Mutter. Gramps habe ich ihn immer genannt. Er übernahm die Vaterrolle.« Er machte eine kleine Pause. »Hast du eigentlich Fotos dabei?«, fuhr er plötzlich fort.
»Ja.« Ich nickte und ging zu meiner Tasche. Das hatte ich in meiner ganzen Aufregung nicht vergessen: Aufnahmen unserer Familie einzustecken, die ich meinem Bruder zeigen wollte. Auch von unserem Vater waren einige dabei. Zum Spaß hatte ich auch ältere Bilder von Barack selbst mitgebracht, die seine Mutter unserem Vater geschickt hatte. Die letzten stammten aus seiner Studienzeit am Occidental College in Los Angeles. Auf einem Foto war ein ernst aussehender junger Mann mit fülligem Afrolook in einem weißen Blazer und einem dunklen Hemd mit breitem Kragen zu sehen, ganz im Stil der siebziger Jahre. Er lächelte selbstbewusst in die Kamera. Wahrscheinlich für das Schuljahrbuch aufgenommen. Das andere zeigte ihn beim Basketballspielen. Es war genau in dem Moment gemacht worden, als er hochsprang, um den Ball ins Netz zu werfen.
Barack schaute sich lächelnd die Aufnahmen an.
»Tatsächlich. Diese Bilder hatte ich meiner Mutter geschickt.«
»Stell dir vor«, sagte ich, denn mir war plötzlich etwas Erstaunliches eingefallen. »Als ich in Saarbrücken, einer deutschen Stadt an der französischen Grenze, Deutsch lernte, lebte bei mir im Wohnheim eine amerikanische Austauschstudentin. Sie studierte zufällig am Occidental. Eines Tages schauten wir uns meine Fotos an, und plötzlich zeigte sie auf dieses Foto mit dem Afrolook. Sie hat dich wiedererkannt als einen ihrer Mitstudenten. Verrückt, oder?«
Barack nickte, während er weiter auf das angesprochene Bild schaute.
»Damals lebte der alte Herr noch«, fügte ich hinzu, ohne genau zu wissen, weshalb ich dies tat. Dann fragte ich mich, warum ich nicht damals schon versucht hatte, Barack ausfindig zu machen. Ich hätte der Austauschstudentin eine Nachricht an ihn mitgeben können. Irgendwie kam es mir jetzt komisch vor, dass ich immer stolz das Bild dieses ein Jahr jüngeren Bruders bei mir gehabt, aber nichts unternommen hatte, um mit ihm in Verbindung zu treten, als sich dazu eine Gelegenheit bot. Die einzige Erklärung, die mir einfiel, war, dass ich Barack damals als eine Angelegenheit meines Vaters betrachtete und fürchtete, bei dem Versuch, ihn kennenzulernen, eine weitere Büchse der Pandora zu öffnen.
»Du wolltest mir erklären, warum unser Vater so kompliziert war, zumindest aus deiner Sicht. Gestern Abend hattest du schon damit angefangen.« Barack legte die Bilder zur Seite und lehnte sich auf der Couch zurück. »Ich möchte gern verstehen, was ihn antrieb.«
Ich holte tief Luft. Es würde nicht einfach werden, zu erklären, wer Barack Obama senior gewesen war, besonders einem Sohn, der nie länger mit ihm zusammengelebt oder intensivere Erfahrungen mit ihm gemacht hatte. Mir schien, dass ich weit ausholen musste. Ich begann zu erzählen:
»Unser Vater lebte in zwei Kulturen, ständig befand er sich in einem Zwiespalt. Wie fast alle Afrikaner war er ein Opfer des Kolonialismus. Dieser hatte die gewachsenen Traditionen zerstört, und unser Vater war, um in der veränderten Gesellschaft nicht chancenlos zu sein, gezwungen
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