Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Sonntagnachmittagen oder nach Feierabend, sobald dies nur irgendwie ging, nach Aufhausen wanderte und dort aller Vermutung nach ihr Herz ausleerte. Warum tat sie das bei ihm nie? Stand er ihr denn nicht näher? Hatten sie sich nicht auf Lebenszeit miteinander verbunden? Auf Gedeih und Verderb, mit Leib und Seele?
Ach ja, – Seele? Wenn das rätselhafte Wort schon ausgesprochen werden muß – wohin wandte sich denn die Seele der Resl allezeit? Dahin, wo sie es von frühester Kindheit auf gewohnt war: dem Himmlischen zu!
Im Beten blieb sie unverändert heimrathisch. Der Glaube, die frommen Gebräuche, der übliche Kirchgang, die vierwöchentliche Beichte und Kommunion, die Pflichten, welche die Zugehörigkeit zur Gürtelbrüderschaft der »Heiligen Monika« vorschrieb, der Pfarrer und alles, was damit zusammenhing, behielten für sie die alte Wichtigkeit. Im Bäckerhaus verlor man nicht die besten Worte darüber. Gewiß war keiner von den Grafs ein Religionsfeind oder offener Freigeist. Sie waren katholisch wie alle Leute, aber sie hatten gewissermaßen eine eigene Meinung und eine etwas lockere Vorstellung von der Religion, und nichts war ihnen so zuwider, als eine so offen zur Schau getragene Frömmigkeit wie die der Resl. Nicht einmal die alte Stellmacherin, die noch am meisten am Herrgott hing, ging mehr als zweimal im Jahr zur Beichte. Der Lorenz kam seinen religiösen Pflichten, so gut er konnte, nach, indessen der Maxl, die Kathl, der Schmalzer-Franz und gar der Geselle nahmen es damit nicht allzu genau. Aus reiner Zweckmäßigkeit besuchte der Maxl das sonntägliche Hochamt, die Kathl ließ sich seit ihrer Schwangerschaft und Niederkunft kaum mehr in der Kirche sehen, der Franz konnte schon deswegen, weil er auch an den Sonntagvormittagen Brot ausfahren mußte, höchstens zur nachmittägigen Vesper gehen, und der Geselle schlief am Tage. Bei ihren Besuchen in Aufhausen erzählte die Resl oft von dieser Nachlässigkeit in religiösen Dingen bei den Grafs. Dann runzelte die alte Heimrathin die Stirn und meinte nachdenklich: »Soso? – Hm, und spotten tun sie auch noch darüber? Kein Gewissen machen sie sich draus, wenn über sie geredet wird?« Und sie fragte ihre betrübte Tochter, ob sie denn dagegen nicht auftreten und Wandel zu schaffen imstande wäre.
»Hm, ja, mein Gott, was soll ich denn machen?« erwiderte die Resl, »auf mich hört doch keiner! Mein Gott, ich muß eben für alle beten.« Die Genovev, deren Heirat mit dem Peter für den Herbst festgesetzt worden war, schaute schadenfroh und überheblich auf ihre verheiratete Schwester, als wollte sie sagen: »Da hast du es jetzt: Über den Peter hast du ewig gemurrt, aber der weiß, was Religion ist. Wart nur, dich und den gottlosen Maxl trifft schon noch das Unglück!«
Die Resl kam meistens bedrückt von Aufhausen ins Berger Bäckerhaus zurück. Sie ging in die Ehekammer, zog sich um und betete insgeheim einige Vaterunser in der Hoffnung, daß Gott die »Bäckerischen« doch noch einmal frommer mache.
Indessen nichts unter den Menschen ist ohne Ursache, und die wirklichen Erscheinungen in ihrem Leben sind immer nur das Abbild davon. Auch die Ungläubigkeit der Grafs kam nicht aus dem Ungefähren. Sie schien tief in ihnen verwurzelt. Sie dachten freilich auch nie darüber nach und empfanden kaum einmal das Bedürfnis, sich darüber Rechenschaft abzulegen, wieso und warum denn bei ihnen der Hang zum Zweifel weit mehr ausgeprägt war als die Hingabe an eine Religion, an den überlieferten Gott. Sie alle waren eher zum unverbindlichen Betrachten, zum zeitweiligen, etwas melancholischen Nachdenken geneigt als zum peinigenden Sinnieren, zum entscheidungsvollen Forschen nach dem Grund dieser inneren Veranlagung. Und bis jetzt war dazu auch noch kein Anlaß gewesen.
Nun aber war ein unbeirrbar gläubiger Mensch in ihre Mitte verpflanzt worden, der durch die stille Kraft seiner Demut geradezu aufreizend und herausfordernd auf sie wirkte. Die Resl eiferte und stritt nie. Sie widersprach nicht einmal, wenn man sie wegen ihrer Frömmigkeit verspottete. Sie arbeitete ausdauernder als jeder, blieb ruhig und friedlich und lebte ihr eigenes Leben, als sei sie ein Beispiel. Ihre stumme Geduld, ihre unangreifbare Verträglichkeit schien die Grafs mitunter sogar zu beschämen, wenngleich sie das nicht zugeben wollten. Sicher fragten sie sich oft, ob denn diese eigentümliche Haltung der jungen Bäckerin nicht eher ein starrer, hochmütiger Bauernstolz war als
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