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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Millionen-Anhängerschaft, und der scheinbar so unbeugsame Kanzler mußte sich im Reichstag deren Unterstützung gegen seine Widersacher sichern. Und diese Widersacher waren nicht gering; denn obgleich das immer noch bestehende »Sozialistengesetz« die Arbeiterschaft drakonisch niederzuhalten versuchte, langsam keimte bei den einsichtsvolleren Vertretern der bürgerlichen Parteien die Erkenntnis auf, daß es nicht anging, derart umfangreiche Massen in völliger Rechtlosigkeit zu belassen. Um sich behaupten zu können, mußte der Kanzler seinen jeweiligen Verbündeten im Reichstag allerhand Vorteile bieten, und dadurch gewann das Zentrum viel. Katholische Vereine und Gewerkschaften wurden wieder genehmigt und nahmen einen ungeahnten Aufschwung, politische katholische Tageszeitungen und Wochenschriften hielten ihren Einzug in die entlegensten Landgegenden, und – was niemand richtig einzuschätzen vermochte – der inzwischen herangebildete Klerus, welcher nunmehr die Pfründen und Pfarrstühle einnahm, war weitaus aufgeschlossener, wendiger und geschickter als der vorhergegangene. Es galt für ihn nicht mehr kämpferisch politisch hervorzutreten, es war einzig und allein wichtig, daß so ein Geistlicher überall das uneingeschränkte Vertrauen gewann.
    Auch der Nachfolger des alten Aigner war aus dieser Klerikergeneration hervorgegangen. Er sagte nie ein Wort gegen den Kanzler und war kein Reichs- und Preußenfeind. Dieser neue Pfarrer verstand es nun sehr schnell, sich alle Herzen zu gewinnen. Er hieß wie der Aufkirchener Wirt, nämlich Klostermaier, doch er war nicht verwandt zu demselben, und sein Vorname lautete Dionys, während der Wirt auf Matthias hörte. Er hatte eine Art, die man noch nie bei einem Geistlichen erlebt hatte. Er betrieb Landwirtschaft wie jeder Bauer, hielt Vieh, ackerte und erntete selber. Zuweilen, wenn man ihn werktags, hutlos und in Hemdärmeln, breitbeinig auf dem langen Leiterwagen stehen sah, in der einen Hand die Zügel seiner zwei Pferde, in der anderen die Peitsche, die er kunstgerecht zum Knallen brachte, so kam kein Mensch auf den Gedanken, daß das der hochwürdige Herr Pfarrer sei. Noch mehr – es schien mitunter sogar, als betreibe der Dionys Klostermaier sein Seelsorgeramt überhaupt nur nebenher, wiewohl er es ordentlich führte und zu keinen Klagen Anlaß gab. Seine Messen und Hochämter verliefen, wie die Leute begeistert sagten, »schwunghaft«, und seine derben, höchst bildhaften Predigten zogen auch die nachlässigsten Gläubigen wieder in die Kirche. Er war ein großer, breitschulteriger Mann ohne Beleibtheit, dessen scharfgeschnittenes, braungebranntes Gesicht Intelligenz, Humor und Gesundheit verriet. Wenn er lachte, brach sein Mund weit auf, und die schneeweißen, mandelförmigen Zähne bildeten einen reizvollen Kontrast zu den tiefschwarzen, dichten, etwas gelockten Haaren. In seinen braunschwarzen, scharfen Augen glänzte eine leichte Respektlosigkeit, eine so einnehmende, schlagfertige Unverblüffbarkeit, daß jeder Mensch bei einer Begegnung mit dem Pfarrer anfänglich ein wenig befangen und entwaffnet wurde. Schon nach den ersten Worten aber, die Dionys Klostermaier sprach, wurde es anders. Sein Partner gewann rasch Vertrauen und verschwieg nichts mehr. Der Geistliche hatte gewonnen und lächelte dünn. Er schien sich seiner wohltuenden Wirkung zu freuen, doch er schien diese Wirkung auch genau zu kennen. Er verhielt sich stets dementsprechend.
    Etwas über vierzig Jahre war der Klostermaier erst alt und war doch grunderfahren in allem: in der Menschenbehandlung, in den bäuerlichen Angelegenheiten, im Unterscheiden von Recht und Unrecht, aber auch im geschickten Abwägen, ob dieses oder jenes für die kirchlichen Interessen nützlich sei.
    »Der kennt die Weibsbilder und weiß, wo einem Mannsbild der Schuh drückt«, pflegten die Bauern der Pfarrei ihn zu charakterisieren, und sie hatten nicht unrecht. Der Pfarrherr schien offenbar bigotte Menschen zu meiden, er mochte die beflissenen Betschwestern nicht, aber er verstand doch, sie zu gegebener Zeit für fromme Zwecke zu benützen. Obgleich er zum Beispiel nicht im geringsten neugierig oder klatschsüchtig war, wußte er doch immer alles, was an Gerüchten umging und was sich in den Dörfern zugetragen hatte. Er war ein außerordentlich gewiegter Zuhörer, der schnell das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden vermochte und innerlich notierte. Leger und unvoreingenommen waren seine Unterhaltungen mit

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