Das Leben meiner Mutter (German Edition)
»richtig trocken hinter den Ohren« sei.
Viele, die mit der Zeit in die resolute Staatsführung Vertrauen gewonnen hatten, dachten ungefähr so wie der Maxl. Dennoch – die Entlassung war ausgesprochen, und der alte, starrsinnige Exkanzler zog sich grollend zurück. Die Zeit ging weiter, als sei nichts geschehen. Der junge Kaiser, hieß es, sei »sein eigener Kanzler«. Das Sozialistengesetz war aufgehoben. Die Arbeiter im ganzen Reich sammelten sich wieder und ihre Partei nahm zu und zu. Wenn auch der Kaiser ein scharfer Gegner der Sozialdemokraten war, ihre Abgeordneten im Reichstag führten noch nie gehörte, aufreizende Reden.
»Wenn wir Bürgersleut’ nicht sind, kann sich nichts halten!« sagte der Maxl, »der Bismarck hat es gewußt.« Der Schmalzer-Hans meinte brummend, jaja, wenn jeder Bürgersmann so wäre wie er, der Maxl, dann könnten die da droben im Berliner Reichstag samt ihrem windigen Kaiser nicht so Schindluder treiben mit allem. Das hörte sich so gut an, daß ihm der Maxl ein Glas Schnaps schenkte. Er trank sogar selber eins.
Stolz und breit und sehr augenfällig stand das ausgebaute Bäckerhaus mit seinem hohen, mächtigen Kamin in der Dorfmitte von Oberberg. Es war nicht mehr wegzudenken. Die Ladenglöcklein bimmelten den ganzen, lieben Tag. Weithin sichtbar, an der Hausmauer, oberhalb der zwei Auslagenfenster des Ladens, prangte eine cremegelbe, lange Holztafel mit den fettschwarzen Buchstaben:
Bäckerei, Melberei und Kolonialwarenhandlung
von
Theres und Max Graf
gegründet 1776
In jenem fern zurückliegenden Jahr nämlich war dem damaligen Besitzer des einst so armseligen Häuschens, einem gewissen Abenthum, das verbriefte Recht zur Ausübung der Bäckerei zuerteilt worden. Von ihm erwarb Maxls Großvater, der Andreas Graf, das Anwesen samt dieser Gerechtsame, ohne je zu wissen, was er mit der letzteren für einen verborgenen Schatz eingehandelt hatte. Erst der Enkel erkannte ihn und hob ihn.
Mein findiger Vater übersah nie die geringste Kleinigkeit, die ihm nützlich und ergiebig schien. Deswegen fielen für ihn Erwerb der Gerechtsame und Geschäftsgründung zusammen. Vielleicht aber war die Angabe dieser Jahreszahl auch etwas wie ein stiller Dank an alle jene, die vor ihm auf dem Platz, den er nun endgültig erobert hatte, gelitten und gekämpft hatten. Er war ein Mann, ganz wirkend in der täglichen Gegenwart, aber er hing nicht weniger tief mit seinen Vorfahren zusammen als die Heimrath-Resl – meine Mutter …
Zweiter Teil
Mutter und Sohn
Die Entdeckung der Mutter
»Gestochen hat er sie! … Von hinten … Sein Messer soll giftig gewesen sein«, sagte der Wagner Neuner zum Schmalzer-Hans, während er sein Werkzeug zusammenräumte. Er klopfte mit den flachen Händen den Holzstaub von seinem grobleinenen blauen Arbeitsschurz und brummte mehr für sich: »So, der Tag ist auch wieder vorbei … Mein Gott, ich möcht’ keine Fürstlichkeit sein! Nicht geschenkt! … Es ist auch ein recht unsicheres Leben! … Was hat sie jetzt, samt dem, daß sie Kaiserin gewesen ist? Gar nichts! Jetzt ist sie auch tot wie unsereins …«
Wir Kinder standen dabei, schnappten jedes Wort auf und schauten ab und zu staunend zu den zwei Männern empor.
»Jaja«, meinte der Schmalzer-Hans durchaus gleichgültig und fing gemächlich zu erzählen an: »Beim Klostermaier droben haben sie schon gesagt, der Stich selber soll gar nicht so arg gewesen sein, aber das Gift! … Da hat nichts mehr geholfen … Ich hab’ sie seinerzeit, wie unser König noch gelebt hat, oft gesehen im Schloß drunten … Eine hochnoble, bildsaubere Person ist sie gewesen. Eine Kaiserin, wie man nicht leicht eine findet … Sie hat unserm König auch gleichgesehen.«
Der Wagner Neuner nahm den ›Land- und Seeboten‹ von der Hobelbank und gab ihn dem Hans: »Da, in der Zeitung steht schon alles genau drinnen.« Er schneuzte sich. Dann schnupfte er rasselnd.
Der Hans, der nie etwas las, warf einen flüchtigen Blick auf die Zeitung, und wir reckten neugierig die Hälse. Die ganze erste Seite war umrahmt von einem breiten schwarzen Trauerrand, und unter den dicken Lettern der Überschrift sahen wir das Bild einer Frau mit hoher Frisur, einer geraden Nase und ernsten, stolzen Augen. »Jaja, genau so hat sie ausgeschaut, ganz genau so«, sagte der Schmalzer-Hans, »eine stramme Person! … Und couragiert, mein Lieber! … Reiten hat sie können, besser wie jedes Mannsbild.« Er und wir Kinder gingen etwas auf
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