Das Leben meiner Mutter (German Edition)
dreizehnten Juni war das für Berg so tieftraurige, denkwürdige Pfingsten gefallen. Im selben Jahr am 13. Dezember, mitten in der Adventszeit, hatte die Bäckerin eine schwere Geburt. Ihr Leben hing an einem Faden, als ihr sich schmerzhaft windender Leib die Frucht aus sich herausstieß. Ein Mädchen war zur Welt gekommen und wurde bei der Taufe Luzie genannt. Das Kind aber lebte nur ein halbes Jahr.
Einen ganzen Tag lag die Gebärende besinnungslos im blutbefleckten Bett, aber sie atmete. Die Hebamme machte ein bedenkliches Gesicht. Im ganzen Haus waren sie stumm und niedergeschlagen. Am dritten Tag stieg das Fieber der Wöchnerin, und der aus Starnberg herbeigerufene Arzt sagte zu Maxl, er solle sich auf das Schlimmste gefaßt machen. Ziemlich mürrisch brummte er es aus seinem dichten Bart. Er sah den Bäckermeister dabei nicht an und ging schnell davon.
Draußen trieb der gefrorene Schnee und tickte leise auf die Fensterscheiben. Bleigrau sah die Helligkeit in der Ehekammer aus, und es roch scharf nach Medikamenten. Als es dunkelte, wurde der Atem der Resl unregelmäßig und fliegend. Ihre Augen brachen weit auf. Sie stöhnte und verlangte fortwährend zu trinken. Ratlos standen der Maxl und die Hebamme da. Drunten vor dem Haus, in der schwarzen Kälte, erklang plötzlich ein tonloses Beten. Die nächste Nachbarschaft kniete auf der Straße. Ganz deutlich hörte der Maxl den Vorbeter, den Kramer-Jakl, lamentieren: »Für eine schwerkranke Person bitten wir dich, Allmächtiger! Erbarme dich ihrer! Aber dein Wille geschehe … Vater unser, der du bist …«
Auch die Resl mußte es gehört haben, denn sie faltete trotz ihrer peinigenden Schmerzen die Hände und begann zu lispeln. Maxl und Hebamme taten dasselbe. Eine schwere Nacht verrann, noch eine und noch eine. Endlich kam wieder Leben in die Resl. Ihre unsicheren Augen bewegten sich wieder natürlich. Ihre rauhen Hände streichelten das quengelnde, rundköpfige, haarlose Kind, das nach der Brust schnappte.
»Dreizehn! Dreizehn!« sagte der Maxl, »ausgerechnet ein dreizehnter hat’s sein müssen. So ein Tag hat, seit der König zugrund’ gegangen ist, keinen Segen mehr in sich!« Er glaubte nichts, dennoch hing er an solchen Vorzeichen mit unerklärlichem Aberglauben. Weiß Gott, wie das nun zusammenhängen mochte, seit der Geburt der Luzie fing die Resl an, an einem offenen »Kindsfuß« zu leiden. Krampfadern hatte sie ja schon lange. Viele Wochen lag sie darnieder, und das war ihr das Schlimmste. Jeden Tag wollte sie aus dem Bett, doch sie merkte, wenn sie aufrecht stand, daß sie zu schwach war. Nur diese Einsicht, nicht das Dawiderreden von Hebamme und Arzt, und noch weniger das gutgemeinte Schimpfen Maxls, brachte sie dazu, sich wieder hinzulegen. Unendlich lang kam ihr jeder Tag vor. Wenn das Kindlein neben ihr schlief, in Stunden des Alleingelassenseins, schaute sie schwermütig zur weißgetünchten Decke empor, und ihr derbknochiges Gesicht bekam einen verlorenen Ausdruck. Zum erstenmal war ihr – ihr selber! – der Tod, den sie ohnmächtig fürchtete, begegnet, und nie wieder vergaß sie das. Nach einer Weile verschränkte sie ihre zerarbeiteten Finger, sah flehentlich bitthaft ins Hohe und begann, leise zu beten.
Als dann, nachdem sie längst gesund war, das Kind zu kränkeln anfing und hoffnungslos dahinsiechte, pflegte sie es sorgfältiger und zärtlicher als jedes andere. Soviel Inbrunst und Bekümmertheit hatte niemand bei ihr vermutet. Der Tod der kleinen Luzie versetzte sie in eine lange, lähmende Trauer, die ihr wahrscheinlich selber unerklärlich war. Diese Niedergeschlagenheit nahm noch zu, als im Februar des neuen Jahres ihre Mutter starb. An diesem Tag, nach dem Begräbnis, kam der Maxl mit ihr nach Aufhausen. Alle Heimrathschwestern mit ihren Männern hockten am großen Tisch in der weitläufigen Stube. Die Genovev hatte sich nicht sonderlich verändert, dagegen waren die Marie, die Nanni und sogar die muffige Kathrein recht zufrieden und lebensfroh geworden. Mit einer kargen, scheuen Zärtlichkeit redeten sie mit der so auffällig einsilbigen Resl, die sie immer geliebt hatten. Die Unterhaltung drehte sich um die verstorbene Mutter. Frohe und traurige Einzelheiten aus ihrem Leben wurden erzählt.
»Ja, unsere Mutter! Mein Gott!« sagte die Resl nach langem Schweigen, »selig hab’ sie unser Herrgott!« Und sie schaute dabei wehmütig in der Stube herum. An jedem Ding blieben ihre Blicke hängen.
»Jetzt kann sie rasten,
Weitere Kostenlose Bücher