Das Leben meiner Mutter (German Edition)
die Seite, denn der Wagner trat jetzt aus seiner hohen, gewölbten Werkstatt, drückte das Tor zu und riegelte ab.
»So, Kinder, marsch! Macht, daß ihr heimkommt! Nacht wird’s!« rief er. Es dämmerte schon. Die laue Luft hatte sich fühlbar abgekühlt, und sie roch nach Herbst. Über der Straße, um den heckenumsäumten Obstgarten vom Schatzl, der sich über den sogenannten »kleinen Berg« hinaufzog, wisperten noch vereinzelte späte Vögel.
»Wer ist denn die Frau?« fragte mein Bruder Maurus, auf die Zeitung deutend, und wir drängten uns um den Hans.
»Das? … Die Kaiserin Elisabeth von Österreich! Die ist erstochen worden«, erklärte uns der Wagner Neuner und wurde leicht ungeduldig, »so jetzt aber marsch! Weiter! Heim jetzt! … Eure Mutter ist doch krank!« Diese letzten Worte überhörten wir. Wir bekamen wichtige Mienen, liefen den kleinen Berg hinauf und schrien gleicherzeit, als wir in die Wohnkuchl kamen: »Vater! Die Kaiserin Elisabeth haben sie erstochen!« Ein fast wohliges Gruseln durchlief uns dabei. Wir schnaubten und hatten hochrote Backen.
»Jaja!« sagte unser Vater brummig, »machts keinen solchen Lärm … Die Mutter ist doch krank!« Jetzt erst sahen wir sein besorgtes Gesicht, bemerkten den Zwerg, die »alte Resl«, in der Kanapee-Ecke, sahen unsere älteren Geschwister stumm herumsitzen, und es stieg uns auch wieder der penetrante Lysolgeruch in die Nase, der schon seit Wochen das Haus erfüllte. Enttäuscht schwiegen wir ebenfalls und machten ernste Gesichter, aber die Kaiserin Elisabeth ließ uns keine Ruhe.
»Der Wagner Neuner hat gesagt, mit einem giftigen Messer hat sie ein Lump gestochen«, fing der Maurus von neuem an, und auf einmal entdeckten wir die ausgebreitete Zeitung auf dem Tisch, sprangen auf die Holzbänke und beugten uns über das Bild mit dem Trauerrand.
»Jaja, die ist’s! Jaja!« riefen wir alle, drückten und verdrängten einander, der Vater wies uns zurecht, wir beruhigten uns ein wenig, und dann fing der Maurus buchstabierend zu lesen an: »R-u-u-chl-l-o-oser M-e-eu-ch-ch-« … Er stockte. Das e-u irritierte ihn. Es klang zu fremdartig. Er und wir überlegten.
»Es heißt doch eu! … Meuchelmord! Schafskopf, saudummer!« fuhr ihn unsere zwölfjährige Schwester Theres an. Dieses Wort verstanden wir erst recht nicht, dennoch machte sich der Maurus sofort wieder unverzagt ans Weiterlesen: »Meu-Meuchel-mo-rd a-n I-h-r-e-r K-a-i-s-e-rl-i-ch-chen M-a-je-st--«
Die Tür ging auf. Vater und Geschwister hoben die Gesichter. Maurus schwieg. Der Zwerg malmte gleichgültig mit dem Unterkiefer. Die rundliche braunhaarige Hebamme blieb kurz stehen, sah auf unseren Vater und sagte kopfschüttelnd: »Ob das Kind noch durchkommt? … Ich weiß nicht.«
»Und die Resl? Wie geht’s der?« fragte er.
»Naja!« wich die Hebamme aus und zuckte dabei mit den Achseln, »mit einundvierzig Jahren! … Und das elfte Kindbett! … So einfach ist das nicht mehr.« Sie ging mit einem Bündel blutbeschmutzter Windeln auf den Herd zu und warf sie in den dampfenden Wassertopf.
»Soll vielleicht der Doktor nochmal kommen?« fragte er wieder.
»Sie ist jetzt eingeschlafen … Recht matt ist sie«, meinte sie statt einer Antwort. »Ich glaub’, es ist besser, wenn ich das Kind in die Kuchl bring’. Da kann’s schreien.« Und während sie mit dem langen Holzlöffel die Windeln in das brodelnde Wasser stieß, fügte sie dazu, daß für den Doktor bis morgen auch noch Zeit sei.
Als sie aus der Kuchl gegangen war, blieb es eine Weile still.
»Vater? … Muß unsere Mutter sterben?« fragte der Maurus auf einmal, und die Kaiserin Elisabeth interessierte uns nicht mehr.
»Setzt euch ordentlich hin«, sagte der Vater und schluckte ein wenig. Wir folgten wortlos und falteten, da er und die ältesten Geschwister dies taten, unsere Hände. Niemand aber fing laut zu beten an. Es kam uns vor, als rieche das Lysol auf einmal viel stärker. Der Geruch vermischte sich mit dem Dampf des Seifenwassers. »Krank« – »sterben« – »Tod« fiel uns von ungefähr ein, und wir dachten an unsere Mutter. Eine sonderbare, unbestimmte Bangigkeit überkam uns nach und nach. Wir sahen unverwandt auf unseren Vater, der einen leeren Blick hatte. Es wurde allmählich ganz dunkel in dem niederen, dämpfigen Raum. Die Pendeluhr tickte, und das Wasser brodelte. Endlich, als die Hebamme mit dem schreienden Kind über die Stiege herunterkam, stand der Vater rasch auf und zündete die
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