Das Leben meiner Mutter (German Edition)
unsere Mutter!« redete sie in gleicher Weise weiter und setzte um einen Ton ergriffener hinzu: »Und jetzt sind wir nicht mehr daheim in Aufhausen. Jedes von uns ist in der Fremd’ …« Nickend stimmten ihr die anderen zu. Man zerkaute das feste Bauernbrot und trank Bier dazu. Einmal stand die Resl auf und ging mit der Marie in den Stall, oben hinauf in die Kammern, schließlich in den abschüssigen Obstgarten, dessen verschneite Bäume kahl und tot dastanden.
»Mein Gott, mein Gott, wie sich alles so schnell verändert!« sagte die Resl zu ihrer Schwester und schaute ihr in die ungewissen Augen, »alles ist anders! Das Haus, der Hof und der Stall! Hm … Sogar riechen tut alles anders! Alles ist weg!« Sie rieb mit ihren gebogenen Fingern ihre nassen Augen. Ihr Kinn zitterte ein wenig.
»Resl? Was ist denn mit dir? Was denn?« fragte die Marie ernst werdend. »Du bist ja auch ganz anders. Man kennt dich kaum noch! Bist du denn krank oder hast recht viel Verdruß mit dem Maxl?«
Die Resl schüttelte stumm den Kopf. Sie atmete seufzend und wandte sich wieder der offenen Stalltüre zu.
»Ich kann mich bloß so hart gewöhnen, Marie«, erwiderte sie endlich und schloß: »Mein Gott, der Maxl? Unrecht ist der nicht, gewiß nicht, aber es geht so langsam, bis ich in alles hineinwachs’ … Jetzt, wo unsere Mutter tot ist, wird’s vielleicht eher gehen …«
Sie strampelten ihre schneeigen Schuhe im Stallgang ab und kamen wieder in die Stube zurück. Dort war noch immer das gleichgültige Gerede. Als man endlich auseinander ging, musterte die Resl wiederum alles, was ihr von Kind auf so vertraut gewesen war: die Stube mit dem Tisch und der herumlaufenden Holzbank an den vier Wänden, die tickende Pendeluhr, die paar Spinnräder, den mächtigen Kachelofen und das angeschwärzte Kruzifix mit den zwei Heiligenbildern, dann – im Hinausgehen – die verrußte Kuchl mit dem großen Herd, den Pfannen und Schüsseln im Holzrahmen, den Milchkübeln am Boden, den paar Bänken, Stühlen und dem besudelten Tisch. Es war, als nähme sie jetzt erst endgültig Abschied von all dem. Die im Heimrathhaus zurückbleibenden Geschwister drückten ihr die Hand, und jede sagte: »Viel Glück, Resl! Bleib gesund, ja?« – »Jaja, hoffen wir’s, und unser Herrgott wird’s schon richten«, gab sie nickend zurück, und – was noch nie geschehen war – sie schob diesmal ihren Arm unter den von Maxl. Festen Schrittes stapften die beiden durch den hohen, knirschenden Schnee.
»Herrgott aber!« lächelte der Maxl leicht und schaute sie von der Seite an, »du machst mir aber heut warm. Warum pressiert’s dir denn gar so?«
»Es ist doch ein Haufen Arbeit daheim, Maxl«, antwortete sie verborgen zärtlich, und ihr Gesicht frischte sich von Schritt zu Schritt mehr auf. Der Maxl sann froh in sich hinein …
Erst nach und nach wurde die Resl wieder der ausgeglichene Mensch, der sie immer gewesen war. Seitdem ihre Mutter unter der Erde lag, ging sie nicht mehr nach Aufhausen. Nur nach dem sonntäglichen Hochamt stand sie üblicherweise mit der Genovev und deren häßlichem Mann am Heimrathgrab. Langsam schien das Vergangene in ihr zur ruhigen Erinnerung auszureifen. Vieles sank in die Vergessenheit. Das Haus in Berg wurde ihre Heimat. Hier begann ihr zukünftiges Leben. Von Jahr zu Jahr wuchs sie mehr in diese nüchterne, zweckvolle Wirklichkeit. Sie blieb zwar unverkennbar bäuerlich in allem, aber es mischte sich – wenn man so sagen darf – auch das Bäckerische darein. Jedes Jahr brachte sie ein Kind zur Welt. Die ersten gingen schon zur Schule, zwei oder drei krochen auf dem Stubenboden herum, und der jüngste Säugling plärrte im geflochtenen Wägelchen, das der Zwerg ab und zu leicht hin und her schaukelte. Emma, Maurus, Lorenz, Oskar und Anna hießen diese nachfolgenden Kinder. Bei den letzteren waren sogar die vornehmen Strauchs von Leoni, welche die gleichen Vornamen hatten, zur Taufe Pate gestanden. Der Maxl war nicht wenig stolz auf die dadurch entstandene Verwandtschaft. Er sah dies als ein Zeichen seines wachsenden Ansehens an. Wenn er jetzt manchmal zurückschaute auf den langen, schweren Weg, den er zurückgelegt hatte, murmelte er mit sicherer, gelassener Zufriedenheit vor sich hin: »Die anderen sind auf einem Fleck stehengeblieben, wir aber sind immer weiter gekommen. Sie haben gemeint, alles auf der Welt bleibt ewig, hm, und derweil hat sich rein alles geändert! Und das wie!«
Er, der gewissermaßen
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