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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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früh aufstehen.«
    »Naja, Gott sei Dank!« meinte mein Vater. Gerade weil der Doktor stets alles so derb und unverblümt heraussagte, hatten die Leute Vertrauen zu ihm. Unser Vater überhaupt, der mochte studierte Menschen, die nichts aus sich machten, besonders gern.
    »Aber jetzt, glaub’ ich, langt Ihnen der ewige Familienzuwachs dann doch! Wie alt sind Sie jetzt? … Fünfzig oder so was? … Da könnten Sie doch einmal an was anderes denken«, warf der Doktor gutmütig hin.
    »Jaja, einundfünfzig bin ich jetzt«, verbesserte ihn der Vater und lächelte schmal, »ich denk’ schon lang an was anderes, aber die Resl muß erst gesund sein.« Der Doktor fragte nicht weiter und verabschiedete sich, nachdem er noch einmal wiederholt hatte: »Also, sie nicht zu früh aus dem Bett lassen!«
    Als er nach ungefähr fünf Tagen wiederkam, war eine große Aufregung, denn unsere Mutter stand schon wieder am Herd in der Kuchl. Alles Dawiderreden und Schimpfen des Vaters hatte nichts geholfen.
    »So leg dich doch wenigstens jetzt, solang der Doktor da ist, ins Bett!« bedrängten sie alle. Vergeblich. Der Doktor kam draußen an den Fenstern vorüber und tauchte in der offenen Kuchltüre auf. Er blieb verdutzt stehen. Alle schauten fast schuldbewußt auf ihn. »Ja-ja! Frau Graf?« fing der vollbärtige Mann zu poltern an, »was glauben Sie denn eigentlich? … Wenn Sie jetzt wegsterben, bin ich schuld! Auf der Stell’ gehen Sie ins Bett, marsch!«
    »Ja, freilich!« rief meine Mutter und drehte sich mit leichtem Lächeln um, »freilich! … Sterben tut man nicht so schnell! … Wo käm’ denn da das Hauswesen hin?«
    »Wenn Ihnen das Hauswesen lieber ist als Ihr Leben, gut!« meinte der Doktor schon um einige Grade ruhiger, denn er mochte empfindliche Menschen nicht, und vielleicht war er sogar ein bißchen zufrieden. Er ging ganz in die Kuchl und sagte halb spöttisch zu unserem Vater: »Ich hab’ immer gemeint, daß Sie regieren, Herr Graf? … Fluchen können Sie doch so schön!«
    »Tja, da machen Sie was gegen so einen katholischen Dickkopf!« hielt ihm der entgegen.
    »Na gut … Schauen wir einmal, wie lang Sie’s aushalten, Frau Graf«, wandte sich der Doktor an unsere Mutter, die sich die nassen, mageren Arme abtrocknete. Wir mußten alle aus der Kuchl gehen. Nur der Vater blieb.
    Wir gingen hinten beim Haus hinaus und kamen ins kleine Häusl, zur Kathl. Es war kaum Platz für uns alle in ihrer winzigen Nähstube.
    »Ja«, sagte die Kathl, »eure Mutter, die hat eine eiserne Natur, aber sie treibt ja Schindluder mit ihrer Gesundheit und verläßt sich bloß auf unsern Herrgott … Das ist ja schön und recht, aber einmal mag auch der nicht mehr.«
    Die Kathl nämlich hatte ein ganz sonderbares Verhältnis zum Herrgott und unterhielt sich, wenn sie allein in ihrer Stube saß, oft lange laut sprechend mit ihm, als stehe er leibhaftig vor ihr. Je nachdem ihr etwas geglückt oder widerfahren war, lobte oder schimpfte sie ihn, gleichsam als wäre sie mit ihm verheiratet. Sie, die von den zwei Vätern ihrer Kinder stehengelassen worden war, führte ein enges, armes Leben, aber sie blieb unverbittert. Ihre Schrullenhaftigkeit heimelte uns an, insbesondere schon deswegen, weil sie meistens heiter war und viele Geschichten von früher zu erzählen wußte.
    Nachdem der Doktor weggefahren war, ließ sich unsere Mutter – wahrscheinlich, weil sie sich noch schwach fühlte – doch überreden, ab und zu während des Tages zu schlafen. Nach etlichen Wochen aber arbeitete sie wie immer. Die Krankheit schien langsam aus ihrem Körper zu weichen, und sie bekam für uns Kinder wieder das gewohnte Aussehen. Wir Jüngsten waren den ganzen Tag um sie und quengelten in sie hinein. Sie wurde wieder etwas für uns, das wir aus unserem Leben nicht mehr wegdenken konnten. Am Abend setzte sie sich auf das Kanapee, nahm die Binden von ihrem rot angelaufenen, offenen »Kindsfuß«, wusch die Wunde mit warmem Wasser, schmierte Butter um die Ränder und preßte – genau wie einst ihre Mutter – ein kühles Huflattichblatt darauf. Dann wickelte sie den Fuß wieder ein und ging zu Bett. Wir standen dabei um sie herum, die Älteren machten ihr ab und zu einen Handgriff, für uns Jüngste aber hatte dieser wunde Fuß nichts Erschreckendes. Unsere Mutter rührte sich ja, redete, ging jeden Tag herum und arbeitete – das verscheuchte jedes Gefühl von Kranksein oder Sterben …
    Der Vater gewann wieder seine Unternehmungslust. Er

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