Das Leben meiner Mutter (German Edition)
hatte dem Doktor nebenher eine Andeutung gemacht, daß er, sobald unsere Mutter gesund sei, an was anderes denke als an Familienzuwachs. Er war gut gelaunt und fuhr öfter ohne recht ersichtlichen Grund mit dem Fuhrwerk nach Starnberg hinüber. Dabei durfte ihn unser ältester Bruder, der sechzehnjährige Max, auf den er sehr stolz war, manchmal begleiten. Der war groß, hager, eckig und breitschulterig, hatte dasselbe längliche Gesicht wie Vater und kam sich wegen seines winzigen Bartanfluges zuweilen bereits als junger Mann vor. Er half auch schon nachts in der Bäckerei mit, was aber jetzt in dieser stillen Herbstzeit kaum nötig war. Obgleich er aber schon ein Jahr aus der »Sonn- und Feiertagsschule« war, konnte er zum Leidwesen des Vaters im Gegensatz zu allen anderen Geschwistern nur schlecht rechnen und immer noch nicht richtig lesen und schreiben. An manchen Tagen gab ihm der pensionierte, spitzbärtige Lehrer Strasser, der erst kürzlich ein kleines Häuschen in Berg bezogen hatte, Nachhilfestunden. Doch Max folgte ihm nicht. Er hielt den alten, zappligen Mann nur zum Narren, stieg lieber auf den hohen Bäumen des Gartens herum und lernte nichts. Eines Tages kam der Lehrer Strasser wütend daher und fauchte: »Wenn Ihr Lausbub so gern klettert, dann lassen Sie ihn lieber Dachdecker werden. Ich habe diese Impertinenz jetzt satt!« Impertinenz? Unserem Vater gefiel das Wort. Offenbar witterte er eine gute Eigenschaft Maxens dahinter. Er lachte und meinte: »Naja, wenn es so ist, gut. Er wird schon werden.« Krachend schlug der Lehrer die Ladentür zu.
Nach dem Mittagessen fuhren Vater und Max fort, und erst bei Hereinbruch der Nacht kamen sie wieder zurück. Wir warteten stets gespannt auf sie, denn meistens brachte der Vater dünne Würste mit, auf die wir sehr gierig waren. Vier davon gab er der Mutter. Den Rest, der verteilt wurde, rauften die älteren Geschwister untereinander mit solchem Ungestüm aus, daß wir Jüngsten nie etwas davon bekamen. Der Vater fing schließlich bellend zu schimpfen an, und die Mutter war so unglücklich über den Streit, daß sie Anna und mir die ihr zugedachten Würste gab.
Schließlich schmatzten wir alle, und es war Ruhe.
»Was tust du denn jetzt so oft in Starnberg?« fragte die Mutter den Vater.
Er erzählte allerhand und wich aus.
»So«, warf Mutter hin und fragte nicht mehr weiter, aber hin und wieder sah sie schräg auf ihn.
Der Mehlreisende Irlinger aus München kam wieder öfter. Mit ihm besprach unser Vater seit jeher schwierige geschäftliche Dinge. Mit einem verborgenen, fast hilflosen Mißtrauen musterte unsere Mutter den altgewordenen, zaundürren Mann, lächelte zweiflerisch, wenn er einige freundliche, lustige Worte sagte, und meinte: »Wenn ich dich schon so oft sehe, da ist mir gar nicht wohl dabei … Was wird euch wieder alles einfallen, dem Maxl und dir! Was Gescheites gewiß nicht, du Feinspinner!«
»Also Grafin! Bäckerin! … Ich komm’ nur, wenn der Maxl mich braucht«, deutete der listige Reisende geheimnisvoll an und lobte den Vater; aber unsere Mutter bekam kein besseres Gesicht davon. Die zwei Männer saßen in der nebenan liegenden Stube, redeten und rechneten. Die Mutter werkelte weiter, fragte nicht und kümmerte sich um nichts. Hin und wieder aber seufzte sie unvermerkt, und es schien uns, als sei sie unruhig.
Kurz nach Weihnachten erzählte der Vater, der Irlinger habe für den Max eine gute Lehrstelle als Konditor bei einem »Hoflieferanten Zech« ausfindig gemacht. Deutlich merkten wir, wie die Mutter aufatmete.
»Soso, deswegen«, sagte sie erleichtert und redete nicht dawider. Wir saßen alle friedlich um den großen eschernen Tisch in der warm geheizten Kuchl. Jeder schaute auf den Max, der eine ernsthafte Miene machte. Sicher bewunderten ihn die älteren Geschwister, weil er über das In-die-Fremde-Gehen gar nicht geschreckt war. Unsere Mutter war wohl traurig, aber sie fand Irlingers diesmalige Ratschläge einleuchtend. Nach acht Tagen fuhr der Vater mit Max nach München und kam erst am anderen Tag wieder.
»Der Bub ist recht standhaft geblieben«, sagte er zufrieden, »das Geschäft vom Zech ist gut … Da lernt er was … Wenn er Kuchen und Konfekt machen kann und kommt heim, das hat Zukunft. Die Herrschaften im Sommer wollen so was.«
Unsere Mutter fand sich darein, obgleich sie nebenher meinte, die Bäckerei sei auch schon Arbeit genug. Wir alle vermißten Max nicht weiter.
Indessen – sonderbar – der
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