Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Irlinger kam immer wieder, den ganzen Winter hindurch. Die Mehlkammer war doch voll. Auf irgendeine Bestellung konnte er also nicht rechnen. Dennoch blieb er manchmal sogar über Nacht, und das Besprechen zwischen ihm und dem Vater ging weiter. Hin und wieder gingen sie zum Bier ins Hotel Leoni hinaus oder zum Wiesmaier hinunter und kamen dann leicht betrunken tief in der Nacht heim.
An einem Nachmittag, als die älteren Geschwister noch nicht von der Schule heimgekommen waren, saß der Vater allein in der Stube am Schreibtisch. Anna und ich spielten in der Kuchl auf dem Boden mit den zerbrochenen Spielsachen von Weihnachten her. Unsere Mutter saß neben der »alten Resl« auf dem Kanapee und stopfte zerrissene Sokken und Strümpfe. Ab und zu stand sie auf, ging an den Herd und stocherte mit dem Holzlöffel im Saufutter, das auf dem Herd kochte. Draußen bleichte der Tag. Im Vorgarten schmolz der Schnee, und eintönig tropfte es von den Dächern.
»Resl?« rief der Vater.
»Ja«, gab Mutter an.
»Geh einmal her«, sagte er und machte die Stubentür weit auf. Er hatte ein großes, steifes, auseinandergefaltetes Papier in der Hand, und als jetzt die Mutter in der Stube war, sagte er: »Schau her, das ist der Plan.«
»Plan? … Was denn für ein Plan?« fragte sie und bekam ein unglückliches Gesicht, »willst du vielleicht wieder bauen?«
»Ja, es geht nicht mehr so«, antwortete er, »gleich wenn’s Frühjahr da ist, wird angefangen … Der Fischhaber von Starnberg übernimmt den Bau … Da, so wird’s.« Er wollte ihr den Plan zeigen. Sie aber schaute nicht hin. Sie wurde nur noch trauriger und fing wehmütig und verdrossen zu jammern an, wo er denn das Geld hernehmen wolle und ob die Schulden noch größer werden sollten. »Mit deinem falschen Irlinger!« hörten wir sie sagen, »mir wird nichts gesagt … Ich sag’ ja, hm, ich sag’ ja!«
Der Vater wurde dringlicher, wurde lauter, und auf einmal fing er sein besessenes Fluchen an. Wir liefen in die Stube. Weinend stand die Mutter da und rief immerzu in dieses Wüten hinein: »Max! Aber Max, um Gottes Himmels Christi willen, Max!« Wir rannten entsetzt auf sie zu und klammerten uns an ihren Rock. Dabei merkten wir, daß ihre Beine stark zitterten. Ihr ganzer Körper zitterte. »Max, so laß doch reden mit dir! Max! Das ruiniert uns doch! Max?!« schrie sie flehend, und auch wir fingen jetzt schreiend zu weinen an. Unser Vater aber bellte immer furchtbarer. Meine Schwester preßte ihren Kopf in Mutters Faltenrock und zog und zerrte daran. Ich starrte auf den Vater, der alle Fassung verloren zu haben schien. Er war kreidebleich, fuchtelte mit dem steifen Plan-Papier herum, schrie und bekam schließlich sogar dünnen Schaum vor dem Mund.
»Dir kann man ja nichts sagen! … Du hast ja nichts wie immer Angst, Angst und nochmal Angst und willst nie was anderes als immer auf dem gleichen Fleck rackern und rakkern, bis du umfällst!« brüllte er und hielt ihr wieder den Plan hin. »Da … Und Geld krieg’ ich! Kredit hab’ ich! … Herrgottsakrament-sakrament!«
»Jaja, ja, mach nur! … Ich sag’ nichts mehr! Gar nichts mehr!« sagte unsere Mutter ganz verdrossen. Das brachte ihn erst recht auf.
»Jaja, ja! … Jaja!! … So machst du’s immer!« schrie er und zerriß plötzlich in einem sinnlosen Wutanfall den Plan. Er rannte auf die Bank, die an der Mauer entlang lief, griff nach den aufeinandergestellten vollen Milchweiglingen und schmiß einen nach dem anderen auf den Boden. Es spritzte, klatschte, und die Scherben flogen nach allen Seiten, und je mehr er kaputt warf, um so wilder wurde er.
»Max! Mein Gott! Max?!« jammerte unsere Mutter und sackte auf einen Stuhl nieder. Ihr Kopf fiel auf den mit grüner Ölfarbe gestrichenen Tisch, und sie verbarg ihn mit den Armen. Sie schluchzte stoßweise. Noch nie hatten wir sie so gesehen.
»Jetzt geh’ ich! Ich sauf’ lieber! … Reden kann man ja doch nicht! Gebaut wird nicht!« schrie der Vater und stampfte aus der Stube. Die Türe flog zu, kleine Mauerstücke lösten sich und fielen herab, die Türe der Kuchl krachte ebenso zu. Nur noch das Schluchzen der Mutter erfüllte die Stube. Schauerlich klang es.
»Mein Gott! Mein Gott! Nie ist Frieden, nie! … Wenn ich doch gestorben wär’!« verstanden wir, und es erfaßte uns ein jäher Schrecken, ein unsagbarer Schmerz.
»Nein! Nein, Mutter! Nein, nicht sterben! Nicht sterben!« weinten wir heftiger auf und klammerten uns an ihre Arme.
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