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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Ratibor einen noch viel größeren Sommersitz neben dem seinen. Eine fromme Madame de Osa, die mit beiden Familien eng befreundet war, kaufte vom Gastl von Kempfenhausen ein großes Grundstück. Ein steinreicher, verstiegener holländischer Kunstmaler van Blaas und ein Architekt, der spekulieren wollte, fingen gleichzeitig zu bauen an, und bald zierten den lieblichen Uferstrich die schönsten Villen.
    Als ich damals zur Schule kam, mußten wir fast jeden Tag eine lange Weile die Zahl 1900 auf unsere Schiefertafeln kratzen, und der junge Lehrer, der uns Buben und Mädel von der ersten, zweiten und dritten Klasse in einem einzigen Raum unterrichtete, sagte nach dieser Lektion stets mit bedeutungsvoller Miene: »Das bedeutet – merkt es euch – den Anfang eines neuen Jahrhunderts mit dem deutschen Kaiser Wilhelm dem Zweiten an der Spitze.«
    Wir schauten ihn dumm und verständnislos an, aber »Jahrhundert« und »Kaiser Wilhelm« prägten sich uns ein. Wir hielten beides für etwas Großes und Geheimnisvolles, aber zugleich – weil wir es uns nicht deutlich vorstellen konnten – für etwas sehr Langweiliges.
    Unser Vater aber sagte einmal: »Jaja, vor hundert Jahr’ ist noch der Napoleon dagewesen. Der hat wenigstens Krieg führen können, aber unser Kaiser jetzigerzeit, der schreit bloß … Der ist nicht viel wert … Und einen verkrüppelten, kurzen Arm hat er auch.« Das enttäuschte uns leicht, und der Kaiser verlor mit einem Male alles Große und Geheimnisvolle und wurde ein Mensch, noch dazu ein »bresthafter«. Uns kam er jetzt vor wie die zwergenhafte »alte Resl«.
    Die Mutter wurde ärgerlich über den jungen Lehrer und meinte: »Der soll euch lieber was Gescheites lernen und nicht lauter so Dummheiten.« Zu ihrer Zeit, schloß sie, da habe man richtig beten, schreiben, lesen und rechnen gelernt, mehr brauche der Mensch nicht.
    »Und rackern und sich plagen wie du!« spöttelte der Vater gutmütig, denn er wollte schon lange, daß sie sich mehr Ruhe gönne.
    »Ja, du hast leicht reden!« warf sie ungekränkt hin, »zu was sind wir denn auf der Welt als zum Arbeiten!«
    Für sie hätte ruhig alles so bleiben können wie immer. Es war ja schön, daß das Geschäft jetzt besser als jemals ging. Sie hatte nichts gegen all das Neue, das sich allenthalben so sichtbar und fühlbar ausbreitete, aber sie nahm nicht teil daran. Sie blieb unverändert. Für sie bedeutete das alles nur immer mehr und immer mehr Arbeit, die eben bezwungen werden mußte.
    »Du bist eigentlich wie eine Maschin’«, sagte der Vater manchmal, wenn er sah, wie wenig sein gutes Zureden nützte, »dich könnt’ man weiß Gott wohin verschicken, meinetwegen nach Amerika oder noch weiter auf einen weltfremden Fleck – sehen tät’st du gar nichts! Du tät’st einfach weiterwerkeln, sonst nichts.«
    Sie lebte nur in ihrer Umgebung und in all dem, was dazugehörte. Was außerhalb dieser Grenzen geschah, blieb ihr fremd. Das bemißtraute sie, ja, sie fürchtete sich sogar davor. Sie wich ihm aus, wo und wie immer sie nur konnte. Das ging aber nicht immer.
    Schon ein paar Nächte hörte sie groben Lärm, wenn sie allein im Bett lag. Der Vater war, wie gewöhnlich, in irgendein Wirtshaus gegangen. Beim Windel war wieder einer von den »christlichen« Viehhändlern aufgetaucht.
    Einmal, als sie vor dem Schlafengehen im Stall nachschaute, ob alles in guter Ordnung sei, blickte sie durchs Fenster und bemerkte, daß Windel, der verwegene Fremde und die Windlin hinter einer langen Reihe geleerter Bierflaschen am Tisch in der Stube hockten. Es war sonderbar. Die Windlin schien nur hin und wieder einige kurze Worte hinzuwerfen. Das versetzte allem Anschein nach die beiden Männer in Wut. Bald hob der eine die Faust und fuchtelte schimpfend mit seinem Bierkrug, bald der andere. Der Windel grinste mitunter noch mehr, als er es sonst tat. Der Händler zeigte seine Zähne. Ganz ruhig saß die Windlin da und musterte höhnisch bald den einen, bald den anderen Mann.
    Mutter hatte kein Licht gemacht im Stall. Der bleiche Mond schien durch die verschmierten Fenster. Sie sah jetzt, wie der Viehhändler plötzlich aufsprang, wie der Windel nach seiner Bierflasche griff. Sie ging schnell aus dem Stall und kam mit klopfendem Herzen in ihrer Kammer an.
    Sie lauschte. Jetzt war es auf einmal still geworden beim Windel drüben. Mit dunklen Ahnungen legte sich die Mutter ins Bett. Sie hörte durch die Wände, wie der Bäckergeselle die Arbeit anfing. Die

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