Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Vater stand dabei.
»Wo stehn denn die Briefe an den Baron Hirsch?« erkundigte er sich. Der Eugen wurde verlegen, versuchte abzulenken, doch der Vater wurde jäh mißtrauisch, suchte im Kopierbuch – und fand statt seiner Texte ganz anders gehaltene Briefe. Er raste. Der Max blieb ganz ruhig dabei. Der Eugen schämte sich und war wütend. Man merkte auch, daß der Max eine deutliche Schadenfreude über dessen Mißerfolg hatte. Eugen beherrschte sich und ließ den Vater schimpfen. Mit aller erdenklichen Geduld versuchte er den Vater von der Nutzlosigkeit und Gefährlichkeit grober Schimpfbriefe zu überzeugen, vergeblich.
»Was Gericht? … Was red’st du da daher! Ich bin einfach im Recht, basta!« schrie der Vater und wurde herabmindernd, »ich hab’ schon genug! Ich seh’ schon, du bist in der Stadt drinnen auch bloß so ein windelweicher Federfuchser worden!« Und er hockte sich entschlossen hin an den Schreibtisch: »Jetzt aber schreib’ ich!« Es wurde ein Brief – nicht zum Ausdenken! Eugen sah die Katastrophe voraus. Schwer bedrückten ihn Vaters Einsichtlosigkeit und seine Beleidigungen. Zudem reizte ihn das hämische Wesen vom Maxl, der stets nur sagte: »Laß doch den Vater schimpfen! Das ist doch seine Sach’! Er wird schon sehn, wie weit er damit kommt! Er war doch beim Militär und ist ein Mann.« So beurteilte er alles. Er hatte sich sehr ungünstig verändert. Der Eugen mochte ihn nicht mehr, und weil wir alle am Eugen hingen, gefiel uns auch der Max nicht mehr. Mit Vater unterhielt er sich nur über militärische Dinge.
Eine Woche bevor Maxls Urlaub ablief, trat Eugen als Buchhalter bei der Brauerei in Starnberg ein. Dieses schnell aufblühende Unternehmen machte der alten, vernachlässigten Brauerei des Baron Hirsch starke Konkurrenz. Eugen wußte das und machte sich dabei seine eigenen Gedanken. Er hing am Vater und an der Mutter, war klug, einsichtsvoll und friedlich. Vaters Starrsinn beunruhigte ihn. Er übersah die Dinge klar, und es kam auch so, wie er es prophezeit hatte: Der Baron verklagte unseren Vater wegen gröblicher Beleidigung und gewann den Prozeß. Wenn unserem Vater schließlich auch 100 Mark Schadenersatz zugesprochen wurden, die Strafe und die Gerichtskosten im Beleidigungsprozeß betrugen viel mehr.
Seither war unser Vater ein geschworener Feind des Automobilwesens. Jeder Autofahrer war für ihn ein gemeiner Verbrecher. Noch giftiger aber haßte er die Automobile selber. Wenn – was jetzt manchmal vorkam – so ein »Teufelskarren« zufällig in der Nähe unseres Hauses parkte, rannte er wütend aus der Ladentür, reckte die geballte Faust und beschimpfte den leeren Wagen derart grimmig und anhaltend, daß die Nachbarn bedenklich die Köpfe schüttelten. Auch unsere Mutter war todunglücklich darüber, aber sie schwieg.
Wir Kinder freuten uns über das Schimpfen. Mit der Zeit aber beachteten wir es kaum noch. Uns interessierten trotz aller Abneigung unseres Vaters die Autos weit mehr. –
Das Weltgeschehen griff in unser Dorf. Die Herrschaften, die im Herbst in die Stadt zogen, hinterließen Stöße von illustrierten Zeitungen und Zeitschriften. Noch vor einigen Jahren hatten wir Kinder uns nur an den vielfarbigen Bildern ergötzt, die die kriegerischen Abenteuer und Heldentaten deutscher Soldaten beim chinesischen Boxer-Aufstand zeigten. Der Kaiser Wilhelm II. rückte mehr und mehr in unser Gesichtsfeld. Man sah ihn in allen möglichen Uniformen auf Verpackungen und auf den kleinen Bildern, die den Schokoladenschächtelchen beilagen, welche gegen Einwurf von zehn Pfennig aus dem Automaten vor dem »Hotel Leoni« gezogen werden konnten. Stets suchten wir darauf den verkrüppelten Arm des pompös aufgemachten Herrschers, aber wir entdeckten keinen. Jetzt lasen wir auch schon manchmal die vielbebilderten Artikel oder Geschichten aus den bunten Zeitschriften.
Der Wiesmaier saß einmal in unserer Kuchl und erzählte, daß der Kaiser zu den nach China abgehenden Truppen gesagt habe, sie sollten nur hausen wie die Hunnen, keine Gefangenen machen und dem »gelben Pack« einmal ordentlich beibringen, was ein Deutscher ist.
»Soso«, sagte unser Vater verächtlich, »jaja, der hat ja leicht reden! Er geht ja nicht mit.«
Der Kaiser war ihm zuwider.
Er besann sich kurz, nahm einen Schluck Bier, strich seinen naßgewordenen Schnurrbart glatt und redete weiter: »Ja, und wenn’s nachher die Chinesen grad so machen, was nachher? … Nachher heißt’s, die
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