Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Nacht hielt unsere Mutter Wache an seinem Bett, die andere Nacht die Theres, dann der Eugen, die Emma und sogar die Leni, nur der Maxl betrat die Kammer nie. Wir Kinder besuchten den Kranken hin und wieder, aber es sah aus, als störten wir seine Ruhe. Das Reden fiel ihm schwer.
»Eugen? … Eugen, es ist alles recht … Schon recht. Schad, daß du nicht der Maxl bist«, sagte er einmal schwach und stockend und machte eine lahme Bewegung mit seiner steifen Hand. Noch kurz vor seiner Erkrankung hatte er sich mit dem Eugen verfeindet, weil der sich in eine arme Starnberger Maurerstochter verliebt hatte, die bald darauf ein Kind von ihm zur Welt brachte. Gerade ihm, der stets sein heimlicher Stolz war, hätte er eine reiche, feine Frau gewünscht.
Vor dem Schulgang raunte unsere Mutter mir einmal zu: »Geh zum Herrn Pfarrer ’nein und sag, er soll zum Vater kommen.« Ich wußte, was das bedeutete, und bekam ein banges Gesicht. Der Geistliche kam. Das ärgerte den Kranken, denn er wußte auf einmal, wie schlecht es um ihn stand. Keiner, der vor dem Sterben steht, will das glauben.
Eine schwere, dumpfe Stille herrschte im Haus. Keiner sagte mehr, als er mußte. Anna und ich waren in der Schule einsilbig, immer abwesend mit unseren Gedanken und unaufmerksam. Wir hingen am Vater, und daß er auf einmal nicht mehr sei, ging über unser Fassungsvermögen.
Der Maurus war inzwischen von Karlsruhe heimgekommen. Er schien große Freude am Konditorberuf zu haben, war ein städtisch feiner Mensch geworden und sprach ein badensisches Hochdeutsch. Maxl und er vertrugen sich wieder, ja, es war sogar, als habe der Maxl vor dem Maurus insgeheim Respekt.
Der Doktor kam täglich. Bei seinem letzten Besuch, als er wegging, machte er ein bedenkliches Gesicht. Wir zwei Jüngsten gingen in die Schule wie immer, aber gegen Mittag sagte der Lehrer zu uns: »Geht heim, euer Vater ist schwer krank.« Das legte sich wie ein unbestimmter Druck auf unsere Brust. Alle anderen Schüler schauten uns an. Während des Heimlaufens sagten wir kein Wort zueinander. Zu Hause roch es stark nach Medikamenten, und als wir in die Kuchl kamen, war nur die »alte Resl« auf dem Kanapee. Wir hörten auf einmal irgendwelche bellenden Laute, die bald abbrachen, lauschten beklommen und gingen in die Kammer hinauf. Erst viel, viel später erzählte uns Mutter, was inzwischen Schreckliches geschehen war. Nämlich als alle so um sein Bett standen und auch der Maxl zur Türe hereingekommen war, richtete sich der schwerkranke Vater plötzlich noch einmal mit letzter Kraft auf. Dürr und schlotternd in weißem Hemd stand er da, mit geballten Fäusten, und schrie grauenhaft: »Du Ehebrecherin! Nicht einmal in der Kammer, wo ich mein Leben lang mit dir gewesen bin, läßt du mich sterben, du – du –« Dann knickte er jäh zusammen, und als Anna und ich in die Kammer traten, sahen wir noch, wie Mutter und Theres ihn wieder in die Decke hüllten. Er röchelte schon. Unsere Mutter und alle Mädchen standen verstört da. Mutter hatte ein duldsam-fassungsloses Gesicht, und lautlos brachen dicke Tränen aus ihren Augen. Ihre zitternden, zerarbeiteten Hände waren ineinander verschränkt. Der Maxl stand reglos da und schaute irgendwohin. Stumm lag der Kranke im Kissen und starrte ihn an, aber es schien, als lebten seine Augen schon nicht mehr. Sein Gesicht war gelb und welk und eingefallen. Die Augen waren noch tiefer in die Höhlen zurückgesunken. Ein ganz klein wenig zitterten die Haare seines Schnurrbarts. Seine mageren Hände krallten sich noch einmal in die flaumige Decke und erstarrten. Es war zu Ende.
»Max! Max!« schrie unsere Mutter plötzlich und warf sich verzweifelnd auf den Toten. Sie schluchzte herzzerreißend. Weinend falteten wir die Hände. Nur der Maxl hatte ein unbewegtes Gesicht und ging bald aus der Kammer.
Drüben in der kleinen Dorfkirche fingen nach einer Weile die Zinnglöcklein dünn zu läuten an. Auf dem Misthaufen unseres Nachbarn krähte ein Hahn, und vom Kramerfeicht herüber drang das dumpfe Surren des Dynamomotors, der die Gsottmaschine trieb. Das Leben ging unberührt weiter …
Die Familie zerbricht
Nun stand unsere Mutter allein inmitten ihrer Kinder, von denen ihr keines nachzugeraten schien. Sie war noch nicht einmal fünfzig Jahre alt und trotz ihres »Kindsfußes«, der ihr mitunter schwer zu schaffen machte, unverändert rüstig. Alle unergründbaren Prüfungen der Religion, die Schrekken des Lebens, die Ängste der vielen
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