Das Leben meiner Mutter (German Edition)
verändert als alle Werke des Krieges! Durch die Jahrhunderte steht die katholische Kirche und hat Geschlechter und mächtige Reiche überlebt, und wir brauchen gar nicht allzu weit zurückzugreifen: die Dampfmaschine und die Elektrizität haben die Welt aufgeschlossen und die Menschen einander näher gebracht im Frieden. Die kleine Glühbirne, die in euren Häusern brennt, wird noch Licht geben, wenn längst von all dem, was sich heute für groß hält, nichts mehr da ist! Seid unverzagt im Namen des Ewigen, der bei den Friedlichen ist!« Einige Männer nickten. Mich ergriffen die Worte so, daß ich sie aufschrieb.
Gegen Abend fuhr der Schatzl den Pfarrer in seiner besten Kutsche zur Bahnstation nach Starnberg.
Es verging eine ungewisse Woche. Der Maxl wartete gespannt. Er arbeitete mechanisch und ganz so, als ob er jeden Augenblick fort müsse. Dadurch war er etwas erträglicher. Schließlich stand in der Zeitung, daß der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt zwischen Frankreich und Deutschland vermittelt habe. Es kam zu einer provisorischen Beilegung des Marokko-Konflikts. Die erhitzten Gemüter besänftigten sich wieder.
»Hm, sie haben auch nichts Besseres tun können als nachgeben!« äußerte der Maxl einmal beim Mittagessen über die Franzosen. »Wir hätten ihnen das Fell schon vollgeklopft …«
Er packte seinen Koffer wieder aus. –
Die Konditorei ging gut, die Bäckerei noch besser. Mit den Herrschaften war auch der Fürst Barjatinsky wieder gekommen und machte große Bestellungen. Die Sonne stand jeden Tag prall über den reifenden Feldern. In der tauigen Frühe fuhren der Schatzl und der Kramerfeicht mit ihren vielbewunderten, funkelnagelneuen Mähmaschinen die Flächen ab. Sie und viele Bauern waren – wie unsere Mutter sagte – »modern« geworden, hatten Elektromotoren und die neuesten Milchzentrifugen. Sie droschen elektrisch und butterten maschinell. Das Leben blieb nicht stehen.
Auch bei uns gab es Arbeit über Arbeit. Jeder mußte zugreifen. Aber da die Eintracht weg war, war auch die Freude verweht. Der kränkelnde Vater lebte wie außerhalb der Familie. Nur im Wirtshaus, wenn ihm das Bier zu Kopf gestiegen war, kehrte seine alte Fidelität wieder. Daheim blieb er grämlich. Die Mutter werkelte geduckt, mit stumpfer Geduld, aber tief verdrossen. Die blinde Rücksichtslosigkeit vom Maxl beherrschte das Haus.
Öfter fuhr der Vater um jene Zeit in die Stadt, um die Kathl aufzusuchen. Offenbar hielt er sie für den einzigen Menschen, mit dem er sich aussprechen konnte. Vielleicht fühlte er ihr gegenüber auch eine Art Schuld. Er hatte sie weggehen lassen, fort in die fremde Armut. Die Roßkopfs kümmerten sich nicht um die Alte. Sie war ihnen peinlich. Sie standen fortwährend auf Kriegsfuß mit ihr. Auch den Quasterl haßten sie. Er durfte sich überhaupt nicht bei ihnen blicken lassen. Er war für sie der »Nichtsnutz«. Er irrte monatelang in der Stadt herum und hungerte schrecklich. Nur ganz selten kam er zu seiner Mutter, doch er jammerte nie. Endlich fand er eine Stellung als Hilfsarbeiter bei einer Mineralwasserfabrik.
Noch bedrückter und sehr erzürnt kam unser Vater meistens von der Stadt zurück. Bedrückt war er über Kathls Elend und über ihren starren Trotz, sich nicht helfen zu lassen. Erzürnt hatte er sich über die Roßkopfs. Er erzählte der Mutter mitunter die heftigen Streitigkeiten, die er mit ihnen gehabt hatte.
Manchmal an den hohen Feiertagen besuchte uns auch die Kathl. Sie war erschreckend gealtert. Die Not konnte man ihr von den Kleidern ablesen, obgleich sie stets sehr bedacht war, honett auszusehen. Die Entbehrung schaute aus ihrem ausgemergelten Gesicht. Nur noch aus Haut und Knochen schien sie zu bestehen. Ihr Körper war eingeschrumpft. Das Atmen und Gehen wurden ihr schwer. Darum blieb sie, selbst wenn das Wetter noch so schön war, mit dem Vater und mit uns Kindern am liebsten in der Kuchl. Der Maxl war meistens fort, und da kam wieder das Beste der alten, früheren Zeiten über uns alle. Sie lebte sichtlich auf, nahm eine Tasse Kaffee um die andere, sprach dem Kuchen gut zu und bekam mit der Zeit rote Fleckchen auf ihren Backenknochen, sie lachte und erzählte.
Wir hingen an ihren Lippen, und auch der Vater wurde ein wenig froher dabei.
Am Allerseelentag standen wir mit der Kathl und den anderen Verwandten am Familiengrab und schauten mit mitgenommenen Gesichtern auf die schwarze Erde. Die Kathl atmete schwer. Manchmal beugte sie sich
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