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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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oder weniger auf ein schlau ausgedachtes Abhungern hinauslief, das der Patient teuer bezahlen mußte. »Der ist der Dümmere noch lang nicht«, sagten die Bauern von diesem schlauen Doktor, wenn die schwerreichen Damen und verfetteten Herren aus aller Welt zu ihm kamen. Schon im ersten Sommer hatte er keinen einzigen Raum mehr frei.
    Drunten am Seeufer von Berg neben dem Dampfschiffsteg stand die altmodische »Restauration« vom Johann Gerhaker, die drei häßliche Spitztürmchen hatte, die – wie manche Herrschaften meinten – die ganze Gegend verunzierten. Der Gerhaker war eine Tonne von Mann, cholerisch, versoffen und absonderlich. Zudem war er Junggeselle. Er stammte aus Halle an der Saale und hatte einst viel Geld gehabt, es aber im Lauf der Jahre verwirtschaftet. Er konnte plötzlich in Wut kommen, wenn ein Gast sich über etwas beschwerte.
    »Wasss?!!!« fing er bei solchen Gelegenheiten zu poltern an und schnaubte asthmatisch: »Wasss!! Was wollen Sie? … Das Schnitzl ist nicht gut? … Verlassen Sie sofort mein Lokal! Augenblicklich, bitte!« Er japste nach Luft, als sollte ihn der Schlag treffen, und er schrie resolut dem Kellner: »Ober? Ober, zahlen Sie sofort das Geld zurück! Sofffort! … So, und jetzt verschwinden Sie! Wer nicht mit mir zufrieden ist, der kann wegbleiben!« Er ließ dem verblüfften Gast die Speise wegnehmen, der Kellner brachte sie in die Küche, Gerhaker hockte sich hin und – verzehrte sie selber. Gabel und Messer gebrauchte er nie, höchstens einen Löffel für die Sauce. Er aß mit den Händen und leckte sich zum Schluß die dicken Finger sorgfältig ab.
    »Ist doch einfach nicht zu sagen! Ist doch einfach platterdings eine ganz niederträchtige Schikane! Das Schnitzl zergeht auf der Zunge, Herr Küchenchef! Auf der Zunge! … Und so’n Lümmel will da Kenkemenke machen!« brüllte er während des Hineinschlingens und genierte sich vor niemandem. Koch, Kellner, Spülerinnen und das Zimmermädchen schauten respektlos auf ihn, doch er sah nichts. Er aß nur. Er schaufelte mit den plattgedrückten Fingern den Kartoffelsalat aus der kleinen Glasschale, schob ihn in sein umbartetes Maul und schmatzte behaglich. Sein Appetit war unermeßlich. Durst hatte er auch den ganzen Tag und trank unablässig Bier oder Rotwein. Er arbeitete nie etwas.
    »Unsereins ist nur zum Regieren geschaffen«, pflegte er zu seinen Angestellten zu sagen.
    Da er aber niemals die nötige Distanz hielt, hatte keiner Respekt vor ihm. Merkte er das, so fing er wie ein brüllender Löwe zu poltern an, ganz gleichgültig, ob Gäste im Garten, im Speisesaal oder im Bierstüberl waren.
    »Herr bin ich hier, verstanden! Sie lächerlicher Mensch, Sie! Lernen Sie erst mal Schritt vor Schritt setzen, Sie Jammerlappen, Sie! Sie Gerngroß, Sie!« bellte er den Ober an, und da geschah es ein paarmal, daß ihn der beleidigte Kellner ohrfeigte und weglief. Die Gäste ergriffen die Flucht. Der Fleischberg von einem Gerhaker wehrte sich nie gegen solche Angriffe. Er ließ sich einfach auf den Boden fallen und ächzte schreiend: »Hilfe! Hi-i-ilfe! Angriff! Unerhört! Wahn-wahnsinnig!« Er blieb noch eine Zeitlang liegen, richtete sich endlich auf und schüttelte seinen halslosen, dicken, oben spitz zulaufenden Kopf: »Ist doch nicht zu begreifen! Diese Bayern verstehn auch nicht den geringsten Spaß! War doch alles nicht ernst gemeint! Absolut nicht!« Zwei- oder dreimal bei solchen Anlässen ließ er sogar den davonlaufenden Kellner einholen, und wenn der wiederkam, sagte er so, als ob gar nichts gewesen sei: »Ich bin doch kein Untier, verstehn Sie, ich bin Tibetaner! Wissen Sie überhaupt, was Tibetaner sind? Das sind die einzigen Menschen, die sich nie wehren! Das bin ich!« Er setzte sich leger und brüderlich mit dem verblüfften Kellner zusammen, betrank sich und belehrte ihn triefend gerührt, wie er’s gemeint habe. Von da ab konnte er schimpfen, was und wie er wollte, der Kellner überhörte ihn. –
    »Ich will mir nur noch in meinen alten Tagen einen ruhigen, gediegenen Lebensabend machen«, äußerte der Gerhaker öfter Dorfleuten gegenüber, und er wartete schon lange darauf, ob nicht ein Käufer seines Restaurants komme. Unser Maxl als Vorsitzender des »Verschönerungsvereins« fand, daß eine solche »polnische Sauwirtschaft wie beim Gerhaker« dem ganzen Dorf schade. Einige Leute pflichteten ihm bei, aber die meisten lachten über den schrulligen »Seerestaurateur«, und es gab sogar Sommergäste,

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