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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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war froh darüber. Obgleich aber Eugen bereits neue Koffer und Anzüge kaufte, wollte sie noch immer nicht glauben, daß er so weit fortgehe. Erst als sie merkte, daß sein Entschluß unabänderlich sei, verlor sie jeden Mut.
    »Aber warum sagt ihr mir denn nichts mehr?« bestürmte sie den Eugen, der ihr entgegenhielt, daß er’s doch gesagt habe. Sie überhörte alles und redete bitter weiter: »Was bin ich denn noch? Jetzt gehst du auch fort, Eugen? Und so weit!«
    »Gräm dich doch nicht so, Mutter«, versuchte sie der Eugen zu beruhigen, »ich komm’ ja wieder! Heut ist das nicht mehr wie früher! Amerika ist gar nicht mehr so weit weg!« Sie sah ihn ungewiß an. Ein schweres Bangen der Zukunft stand auf ihrem wehen Gesicht.
    Zwei Tage darauf fuhr der Eugen fort. Seine Starnberger Braut wollte er bald nachkommen lassen. Theres und Emma befreundeten sich sehr eng mit ihr und besuchten sie oft. Wie alle unberührten Mädchen fühlten sie sich zu dieser jungen Mutter hingezogen und tauschten mit ihr ihre Geheimnisse aus.
    »Ich will ja mein Leben auch grad nicht mit dem Brotausfahren weitermachen«, erklärte die Theres der Mutter einmal, von Starnberg heimkommend, »ich such’ mir jetzt eine Lehrstelle als Modistin … Später kann ich mit der Emma ein Modengeschäft aufmachen.«
    »Ein Modengeschäft? … Wo lauter Bauernleut sind? Geh!« widersprach die Mutter, aber auch die Theres ließ sich nicht mehr umstimmen.
    »Und dann nehmen wir dich zu uns, Mutter«, sagte die Emma zärtlich. »Hm-ha, mich? … Um mich braucht sich kein’s kümmern … Ich stirb sowieso bald«, sagte die Mutter verdrossen.
    Bald darauf fuhr Theres nach München und lernte in einem Geschäft am Gärtnerplatz-Theater das Hütemachen. Immer leerer wurde das Haus.
    Immer einsamer wurde es um die Mutter. –

Leni, die Magd
    Wenn ein Mensch inmitten der Menschen vereinsamt, dann stirbt er ab. Das schien bei unserem Vater der Fall gewesen zu sein. Wenn man’s genau betrachtete – wieviel im Guten und im Bösen hatte ihm doch der Kastenjakl vererbt! Aus dessen Niederschriften erfuhr er einst die Herkunft seines vielverfolgten Geschlechts, das Erlittene seiner waldensischen Väter und Urväter. Dadurch erhielt er gleichsam die innere Waffnung, die mit den zunehmenden, bitteren Erfahrungen immer schärfer wurde. Kastenjakls Unternehmungslust und Weitsicht, aber auch dessen Lieblosigkeit und Ungläubigkeit wirkten unvermindert in ihm nach. Er befand sich sein Leben lang in wildem inneren Widerstreit: Da sprach sein Hirn und hier sein Herz, und keines siegte je über das andere. Er litt oft fast verzehrend an sich und an seinem störrischen Eigensinn. Immer war er von Plänen besessen, wog ab, dachte ungeduldig und handelte waghalsig. Stets wollte er über alle Widerstände triumphieren, wollte Bewunderung und Respekt hervorrufen, die Seinen stolz machen und sie mit Freude erfüllen, aber er war unfähig, jemals aus dem Vollen zu lieben. Darum stand er beständig im Zweikampf mit seiner Umgebung und mit den Menschen, die zu ihm gehörten. Seine Lieblosigkeit und Ungläubigkeit aber gerade zerbrachen ihn schließlich mehr als alles andere. Zuletzt, als es zum Sterben ging, waren ihm alle fremd geworden, sogar unsere Mutter.
    Die aber konnte nicht leben ohne Glauben und Liebe.
    Deswegen litt sie wahrscheinlich so geduldig. Denn leiden um einer Sache willen erträgt sich leichter, als leiden um seiner selbst willen.
    Wenn es auch schien, als sei sie ganz allein, ein Mensch war doch noch im Haus, dem sie sich aufschloß: die Leni, unsere Magd.
    Wir Geschwister bargen nur Verdruß für sie und entglitten ihr. Die Leni aber war wie sie.
    Manchmal auf dem Heimweg von der sonntäglichen Vesper ging unsere Mutter mit ihr durch die reifenden Felder. Seit einiger Zeit war auch ihr zweiter Fuß aufgebrochen. Das Gehen machte ihr Mühe. Jeder Schritt schmerzte. Sie ging schwer und langsam dahin, blieb öfter stehen, holte tief Atem und schaute nachdenklich über die leicht bewegten Ähren. Es war summend still. Im hohen blaßblauen Himmel schwammen etliche durchsichtige Schäferwölkchen.
    Mechanisch griff Mutter nach einer vollen Ähre und zerdrückte sie.
    »Schön steht alles da«, sagte sie.
    »Ja, aber es müßt’ noch ein paarmal regnen«, meinte die Leni ebenso. Die Mutter schien es zu überhören. Sie sah zwischen die dünnen Stengel nieder auf die braunschwarze Erde und sagte wie für sich: »Hm, und da drunten liegen wir einmal alle.«

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