Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Vignette, die er immer wieder verbesserte.
Maurus suchte mich beständig für seine Bücher zu interessieren und gab sich alle Mühe, mir das Gelesene begreiflich zu machen. Ich konnte aber vieles nicht erfassen und wurde schnell müde dabei. Dann wurde er ärgerlich und schlug mich, und es war seltsam, wie er sich dabei erregen konnte. Er war dem Weinen nahe vor Wut und redete in einem fort auf mich ein: »Ja, verstehst du’s denn wirklich noch nicht? … Noch nicht? … Das ist doch schön! Da muß man doch lachen! Begreif doch, du Aff, du blöder! Warum weinst du denn, du Esel? … Paß doch besser auf, dann wirst du schon dahinterkommen, wie wunderschön das ist.« Ich wußte mir zuletzt nicht mehr anders zu helfen, wischte meine Tränen ab, nickte und versuchte, gefroren zu lachen oder beflissen zuzustimmen. Nach einiger Zeit aber lasen wir geradezu um die Wette und freuten uns über die Begeisterung, in die uns die Bücher versetzten.
Ich erinnere mich noch der Spaziergänge an den Sonntagnachmittagen, die wir, mit irgendeinem Buch in der Tasche, gemeinsam machten. Wir hockten uns auf einen stillen Wiesenabhang und schwärmten. Wir lasen damals den ›Vater‹ von Strindberg. Mein Gott, und wir verstiegen uns sogar soweit, die Ehe unseres Vaters und unserer Mutter mit diesem Strindbergschen Ehedrama zu vergleichen, und da war doch alles, alles ganz, ganz anders gewesen. Aber der Mensch, der zum erstenmal ganz hingegeben liest, dem scheint alles Gelesene Leben zu werden, Leben der nächsten Menschen, die er kennt!
Maurus blieb aber leider nicht lange daheim und suchte sich auswärts eine Stellung. Der Maxl war sehr zufrieden damit. Er hatte sich heimlich dessen Backrezepte abgeschrieben.
Für Anna und mich war die abenteuerliche Zeit, wo wir mit anderen Schulkameraden gewildert hatten, längst vorüber. Der Lenz war einmal dagewesen, hatte von einer Polizeistrafe, die er absitzen sollte, erzählt und gesagt: »Mich erwischen die nie! Ich geh’ einfach zum Eugen nach Amerika!« Er nahm die Gewehre mit und verkaufte sie in München. Wir hörten nichts mehr von ihm.
Maurus hatte die Bücher mitgenommen. Ich aber konnte das Lesen nicht mehr missen. Wieder sprach ich mit dem Schuster Lang. Er willigte ein, und ich ließ mir eine Menge neuer Bücher an seine Adresse schicken. Niemand als Anna wußte es. Ich las ihr manchmal während des Brotaustragens Gedichte vor, und wir wurden schwärmerisch, ja beseligt, bis wir wieder daheim ankamen. –
Der Winter war diesmal jäh, lawinengleich auf die Gegend niedergebrochen. In der stockdunklen Frühe watete ich auf der Straße durch das Starnberger Holz und versank immer wieder in den kalten, hohen Schneemassen. Mit stundenlanger Verspätung kam ich schweißtriefend bei den Kundschaften an. Es läutete meistens schon Mittag, bis ich heimkehrte.
»Paß einmal auf, Kerl!« fuhr mich der Maxl drohend an, »wo treibst du dich denn immer so lang ’rum.«
»Es ist was passiert! Die Tochter vom Baron Kapherr ist vom Fenster heruntergesprungen! Sie ist tot!« hastete ich angstvoll heraus, und das rettete mich vor dem Prügeln. Blaß und angegriffen stand ich da.
»Was? Wie weißt du denn das?« fragte mich der Maxl, und ich erzählte: Als ich vom seitab gelegenen Hausmeisterhaus in der schneeigen Dunkelheit zum Schloß hinübergewatet war, hatte ich im ersten Stock das offene Fenster des hellerleuchteten Zimmers gesehen. Ich stieß auf etwas mit meinen Stiefeln. Ein zufälliger Baumstamm oder Stein konnte es sein. Ich stupste mit den Stiefelspitzen daran, beugte mich nieder, griff herum und fühlte auf einmal dünnen Stoff und einen nachgiebigen Körper. Es war die Baronstochter. Erschreckt lief ich zurück zum Hausmeister. Ganz Kempfenhausen war aufgeregt. Die Gegend sprach davon. Die Baronstochter, ein etwas verstiegenes, scheues Ding, hatte sich in einen Münchner Kunstmaler verliebt und erwartete ein Kind von ihm. Das konnten die Kapherrs nicht ertragen. Ihr adeliger Widerstand hatte die kaum Neunzehnjährige in den Tod getrieben.
Es fiel mir auf, daß der Maxl so sonderbar interessiert zuhörte. Nach dem Mittagessen warf er wie nebenbei hin: »Tja, es hilft nichts mehr, ich muß nach München und meine Zähne richten lassen! Die Behandlung muß fix gehn! Aber ich bleib’ wahrscheinlich zwei, drei Tag’ in der Stadt.«
Niemand sagte etwas darauf. Wir atmeten alle erleichtert auf, als er fort war. Wir hockten um den großen eschernen Tisch in der Kuchl und
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