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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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durch den Kopf. Während des Brotaustragens – der schönsten Zeit meines Tages – dachte ich mir einen sich selbst ziehenden Flaschenkork und einen sehr umständlichen, aber – wie ich mir felsenfest einbildete – durch seine Mechanik verbesserten Stiefelzieher aus. Emma, der ich diese Pläne verriet, gab mir Geld. Ich schrieb an alle möglichen Firmen und Patentanwälte, und die Antworten ließ ich an unseren mondsüchtigen Schuster Andreas Lang leiten. Der »Anderl« bekam als Schweigegeld Brot oder Geld. Die Anwälte lobten meine Erfindungen und hielten sie für durchaus lukrativ. Ich mußte fünfundzwanzig Mark schicken. Dafür machten sie die technisch einwandfreien Zeichnungen und besorgten die Anmeldung beim Kaiserlichen Patentamt in Berlin. Allerdings kostete die Anmeldung erneut Geld. Emma ließ sich wieder bereden. In einigen Wochen war ich Inhaber zweier »deutscher Gebrauchsmusterschutz«-Dokumente. Ich ließ in Starnberg Prospekte drucken und verschickte sie nach allen Himmelsrichtungen. Meine Briefe waren höchst naiv und unmöglich. Ich bot an, nannte eine Summe und unterbot sie im gleichen Schreiben. Dennoch antworteten einige Firmen und verlangten ein Modell. Geld, List und Mühe kostete es, bis das bewerkstelligt war. Doch das Modell funktionierte nicht. Die Emma verlor die Geduld. Unter dem Dachboden verrosteten die Reste meiner Erfindungen.
    Nun aber wollte ich Tierarzt werden und bestellte die einschlägige Literatur. Mit heißem Eifer studierte ich während des Brotausfahrens die mit unverständlichen Fremdwörtern gespickten Kompendien. Ganze Seiten lernte ich auswendig davon, und in einer Frühe gestand ich der Mutter meinen Plan. Der Maxl durfte ja zunächst von all dem nichts wissen.
    »Was? … Tierarzt? Geh! Da ist doch Bäckerei viel besser!« wollte sie mich davon abbringen. Sie sah von vornherein, wie vergeblich alles sein würde und schloß traurig: »Wenn ich das dem Maxl sag’, der haut dich bloß recht.« Sie hatte recht. Ich wußte es. Er hatte jeden Willen in mir totgeschlagen, jede eigene Entschlußkraft zerbrochen. Ich lebte in ständiger Angst vor ihm, geduckt und ziemlich abgestumpft, und ich sagte ihm kein wahres Wort mehr. Doch ich wollte heraus aus dieser Enge und Düsternis und raffte meine ganze Hoffnung zusammen. Ich drang in die Mutter wie nie zuvor, wenn ich auch spürte, wie wenig sie mir helfen konnte. War sie denn nicht genau so eingeschüchtert und gedrückt wie ich?
    Als ich etliche Tage später tief am Vormittag von meinem Brotgang zurückkam, wußte der Maxl alles. Er stand vom Schreibtisch in der Stube auf und erschien groß und drohend in der offenen Tür.
    »Was? … Paß einmal auf, Kerl, blöder! Tierarzt willst du werden!« rief er, »Bäckerei lernst du, fertig!« Damit war die Sache abgetan. Die Mutter war froh, daß er mich nicht geprügelt hatte. Traurig stellte sie mir den milchverdünnten Tee hin und seufzte: »Brot geht doch immer! Essen müssen die Leut’!«
    Mein Tag verlief wieder wie immer: Nachts um neun Uhr aufstehen und werkeln, in der Frühe um sechs mit dem Brot fort bis kurz vor Mittag, heim und Gsottschneiden, Holzmachen für den Backofen, nach dem Mittagessen bis fünf oder sechs Uhr mit dem Maxl »konditern« und dann ins Bett.
    Auch dieser schwere Sommer verging wie jeder andere. Anfang Herbst kam der Maurus, der ausgelernt hatte, aus Karlruhe nach Hause. Die Herrschaften waren fort. Der Maxl ging ins Holz oder fuhr Mist auf die Felder und überließ dem Maurus die wenige Konditorarbeit. Er sah ihn nicht gern, redete wenig mit ihm, die beiden wichen einander, so gut es ging, aus, doch sie stritten wenigstens nie. Nun gab es ruhigere Zeiten für mich. Ich brauchte dem Maurus nicht viel helfen, aber ich tat es gern. Jetzt konnte ich ja oft bis nach Mitternacht schlafen, ehe wir das Backen anfingen.
    Der Maurus hatte viele Bücher mitgebracht. Er las Goethe und Heine ebenso eifrig wie Flaubert, Balzac, Stendhal, Maupassant und Zola. Ibsen, Björnson und Strindberg, die damals in Deutschland gerade berühmt wurden, lagen ihm näher als Dostojewski und Gogol, und Gorki mochte er lieber als Tolstoi. Er verstieg sich bis Leibniz, Spinoza, zu Fichte, Kant und Schopenhauer, aus deren Schriften er ganze Hefte voll tiefsinniger Sentenzen abschrieb. In diesen Heften standen auch Gedichte von Klassikern und solche, die er in Zeitungen oder Zeitschriften gelesen hatte. Jede Seite schmückte er mit einer hübschen, selbstgezeichneten

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