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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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politischen Welt geschah, die – dem Meere gleich – uns sichere Uferbewohner in bewegteren Zeiten manchmal mit einer rasch verdunstenden Welle überrieselte: Das Allgemeinleben veränderte sich dadurch nicht allzusehr sichtbar. Die Kaiser und Könige, die verantwortlichen Leiter der Regierungen und die vielen Parlamentarier, die täglich im Getriebe dieser Politik standen, glaubten freilich, sie schüfen erstaunliche Wandlungen, ja, sie glaubten allen Ernstes, ohne sie müsse die Mechanik der gesellschaftlichen Ordnung ins Stocken geraten oder gar zerbrechen. Und sie gaben sich dem irren Wahn hin, als nähme das Volk, das nie etwas anderes kennengelernt hatte als Geborenwerden, Arbeiten, ein wenig Glück und schließlich Sterben, an ihren Machenschaften eifrig teil.
    Das Meer war grenzenlos weit und unübersehbar. Irgendwo tobte vielleicht ein heftiger Sturm: Der Reichskanzler Bülow war gestürzt und Bethmann Hollweg an seine Stelle getreten. In der Zeitung standen die erregten Reichstagsdebatten, welche die neuerliche Steigerung des Flottenbaues hervorgerufen hatte. Die Flotte wurde dennoch vergrößert. In den Dörfern und Städten aller Länder aber traten bei Hereinbruch der Nacht die Leute ins Freie und sahen leicht erschauernd zum dunklen Himmel empor. Der sogenannte »Halleysche Komet« von 1705 war wieder erschienen und rückte – wie es hieß – gefahrdrohend der Erde näher. Menschen wie Leni und unsere Mutter meinten, das sei ein Zeichen des Allmächtigen, und jetzt gehe die Welt bald unter.
    Der Schmalzer-Hans sagte: »So schnell geht das nicht … Es bröckelt bloß alles langsam ab.«
    Die aufgeklärten Städter dagegen redeten von einem »wissenschaftlichen Naturwunder«.
    In den Zeitungen war viel zu lesen. Das Meer schien sehr bewegt. In Portugal war Revolution, im fernen Mexiko ein Aufstand. Italien und die Türkei führten gegeneinander Krieg um afrikanischen Besitz. China wurde Republik. Rasch aufeinanderfolgend entbrannten zwei Balkankriege. Doch die europäischen Monarchen und Präsidenten besuchten einander wie immer und gaben »im Namen ihrer Völker« freundschaftlich-begeisterte Trinksprüche zum besten. Die ihnen unterstellten Regierungen indessen schlossen geheime Militärbündnisse, die das Gegenteil bezweckten.
    »Oskar, wenn du Arbeiter bleibst, mußt du ein Roter werden«, hatte damals der Beckenbauer zu mir gesagt. Nun wußte ich, was ein »Roter« war. Die letzten Reste der Bismarckschen Unterdrückungspolitik gegen die Arbeiter waren zerfallen. Nach allen Schikanen hatten sie sich zur mächtigen »Sozialdemokratischen Partei« zusammengeschlossen und kämpften kraftbewußt für höhere Löhne und besseres Leben. Die Partei war ihnen Heimat und Welt, und Bebel so gut wie Jaurès oder Plechanow galten ihnen mehr als Kaiser, Zar und Präsident. Diesen Führern ging es wohl um Politik, aber die Massen strebten lediglich nach wirtschaftlicher Besserung ihrer Lage. Doch die Massen waren nicht das ganze Volk.
    Das breite Volk, das keine Politik kannte, erlebte ganz andere Dinge. Die waren weder an Landesgrenzen gebunden noch von Regierungssystemen abhängig.
    Jetzt wunderte sich kein Bauer mehr über die vielen Autos, die auf den Landstraßen dahinfuhren. Er schaute kaum mehr danach. Hingegen, wenn die Leute auf den Feldern arbeiteten, hörten sie manchmal ein weithin vernehmbares, fremdklingendes Surren in der Luft. Sie hielten inne und schauten staunend ins Hohe. Da flog einer von den ersten Aeroplanen, oder es schwamm das majestätische Luftschiff des Grafen Zeppelin ruhig in den Wolken.
    Die Namen der Pioniere der Aviatik: Farman, Parseval, Wilbur, Wright und Blériot wurden weit populärer als die der jeweiligen Landesfürsten. Und an beiden Enden des Ozeans trauerten erschütterte Menschen über die 1600 Toten, die der Untergang des englischen Riesendampfers »Titanic« gefordert hatte.
    »Gott sei Dank, daß der Eugen und der Lenz schon in Amerika sind«, sagte unsere Mutter daheim, als sie die schrecklichen Bilder in der Zeitung sah.
    Ich ging in jenen Wochen und Monaten verwirrt und benommen durch die lauten Straßen Münchens und vertat sinnlos mein Geld. Jetzt erst stellte sich heraus, wie hilflos und unselbständig mich die »Zucht« Maxls gemacht hatte. Ich hatte weder Kraft noch den Willen, eine Arbeit zu suchen, und ich fürchtete mich vor den Menschen, die alles so scheinbar unempfindlich und selbstverständlich bewältigten. Bei mir war’s vielleicht wirklich

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