Das Leben meiner Mutter (German Edition)
so, daß ich einen Menschen wie den Maxl brauchte, der einfach kommandierte: »Los! Da, das machst du jetzt, fertig!«
Jeder Tag war öde und leer. Ich hatte Zeit, viel Zeit, und ich dachte an tausend Dinge und doch an nichts. Eigentümlich war nur, daß am Schluß, wenn ich irgendwo verlassen auf einer Bank saß oder abends einschlief, immer und immer wieder durch mein Hirn ging: »Herrgott, was wird jetzt meine Mutter denken?« Sicher dachte sie überhaupt nie viel, stand auf in der Frühe und werkelte bis in die Nacht hinein – und ließ sich so weitertreiben – ja, wie denn? Wie ich mich!
Ich kaufte und las die neuesten Bücher, begann selber zu schreiben und wartete auf irgend etwas, das ich nicht begreifen konnte. In den Auslagefenstern der Kunsthandlungen sah ich die zunächst noch verlachten ersten futuristischen und expressionistischen Bilder von Marc, Kandinsky, Macke und Klee, über die die Bürger und Intelligenzler heftig diskutierten. Es war ein erbitterter Streit, der auch auf die Literatur übergriff und ungewollt, unerklärbar das Sehen und Denken großer Schichten veränderte.
Meine Schwester Theres, die ich manchmal aufsuchte, sprach oft von den Operetten ›Die Dollarprinzessin‹, die ›Försterchristl‹ und ›Puppchen‹, und die darin vorkommenden Schlagertexte sang die ganze Stadt. An den Litfaßsäulen klebten große Bilder der Dänin Asta Nielsen, und der Backfisch, der verliebte junge Mann, die Herrschaftsköchin und ihre Herrschaft selber schwärmten von dieser geheimnisvollen Frau und ihren Filmen. Die Künstler und Literaten machten monatelange Betrachtungen und erfanden Witze über den Raub der Mona Lisa von Leonardo da Vinci aus dem Pariser Louvre. All das strömte auf mich ein, und ohne daß ich’s merkte, geriet ich sehr schnell in die literarischen und künstlerischen Kreise der internationalen Boheme, die damals in München in höchster Blüte stand. Wie weltsicher und zungenfertig, wie ungeniert und frei sich doch in dieser Sphäre alles bewegte. Ich glaubte jedem aufs Wort, hing mich an ihn und geriet rasch in eine geistige Hörigkeit. Ekkig und linkisch, schüchtern und einfältig benahm ich mich und erregte überall mitleidiges Gelächter, aber allem Anschein nach hatte meine Naivität etwas Anziehendes, denn man mochte mich nicht ungern.
»Sieh mal, wie originell! Ganz provinziell ist er. Ein bißchen wie ein Bär«, hörte ich einmal eine Malerin auf einem Atelierfest über mich sagen. Sie und ihre Freundin blickten abschätzend auf mich, und die letztere sagte: »Solche Tiere hab’ ich gern …«
Es stellte sich heraus, daß ich ungemein robust und trinkfest war, und so wurde ich rasch zum Säufer.
Alle Erinnerungen vernebelten langsam. Theres, die mich immer anhielt, doch endlich eine geregelte Arbeit anzunehmen, wurde mir lästig. Ich mied sie. Haltlos versank ich in der neuen Umgebung und sog mich voll wie ein Schwamm, der ins Wasser gefallen ist.
Anna und Emma, die mir manchmal Eßpakete schickten, schrieben einmal vom Lenz in Amerika. Mutter hatte einen Brief beigelegt: »Lieber Osgar! Es macht mir Verdrus, das du noch keine Arpeit hast. Bleib ein orntlicher Mensch und geh in die Kirche. Der Lenz ist jetzt beim Eugen. Da bin ich froh – Grus Mutter.« Ich lächelte, denn all das schien jetzt weit von mir weggeschoben, ich kam mir vor, als sei ich hoch über diese Kleinheit und Enge hinausgewachsen. Zwar, mein Geld ging zu Ende, die Zukunft schien ohne Ausweg, und es gab Stunden, wo ich nicht wußte, wohin ich gehörte, aber ich wollte unbedingt werden wie die Menschen, die mich jetzt umgaben. Nichts war in diesen Kreisen so verpönt wie Sentimentalität.
Man durchsoff und durchtobte die Nächte, diskutierte über alles Mögliche und verkrachte sich auch – um am andern Tag wieder von vorne anzufangen.
Mit einigen Freunden aus der Boheme verzehrte ich die letzten Reste eines Eßpaketes. Wir gingen auf ein Atelier und tranken. Auf einmal befiel mich Ekel und Schauder. Eine lähmende Leere war in mir, und eine dumpfe, undefinierbare Wut stieg in mir auf.
»Alles Humbug! Was ihr macht, ist Unsinn!« schrie ich mitten in die Diskussion hinein. Zuerst schauten etwelche halb ärgerlich, halb spöttisch auf mich, aber plötzlich sprang ich auf, warf das kleine Tischchen um und schrie viel wilder: »Ja! Ja! Idioten seid ihr! Idioten! Ich mag nicht mehr! … Idioten!« Einige Malerinnen wichen erschreckt zurück. Still war es auf einmal. Mein Kopf schien
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