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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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paßte, »kleinbürgerlich«.
    Durch die Roßkopfs, in deren Zigarrenladen ich einmal kam, erfuhr ich zufällig wieder etwas über den Quasterl und fand ihn endlich nach längerem Suchen. Da die Roßkopfs ihn haßten und ihm jeden Besuch verboten hatten, fühlte ich mich auf eine undefinierbare Weise zu ihm hingezogen.
    Der Quasterl war schrecklich abgemagert und sah verwahrlost aus. Nur sein Bärtchen war inzwischen dichter geworden. Wochenlang mußte er schon gehungert haben und wahrscheinlich auch ohne Obdach gewesen sein. Aber er klagte nicht. Er war der unveränderte, stumpfe Mensch geblieben.
    »Hmhm, Oskar?« plapperte er wie ehemals, als ich ihn mitleidig ausfragte und zu helfen versprach, »freilich, freilich! Selbstredend, die Roßkopfs können mich nicht brauchen … Selbstredend, die haben ihre eigenen Sorgen … In acht Tagen krieg’ ich Arbeit, selbstredend.« Großzügig gab ich ihm Geld für eine Zimmermiete und die nächste Zeit, doch das rührte ihn ebensowenig. Wir aßen in einem Automat am Bahnhof, ich bestellte Essen. Er aß gierig und trank ruhig sein Bier. Seine glanzlosen Augen sahen dabei beständig in eine Leere. Er erinnerte mich – ich wußte nicht warum – jäh an meine Mutter.
    »Quasterl«, sagte ich überwältigt, »du bist ein merkwürdiger Mensch, hm.«
    »Freilich, freilich, selbstredend … Net wahr, jeder ist anders, selbstredend«, redete er wie abwesend weiter, »selbstredend, Arbeit kann ich jetzt schon brauchen.«
    Wir verabredeten beim Auseinandergehen eine neue Zusammenkunft, aber er kam nicht mehr. Ich suchte und suchte ihn, vergeblich!
    War er nicht ein zertretener Mensch wie ich? Ja, aber – ich mochte den Vergleich mit mir nicht weiter ausspinnen. Halbwegs beneidete ich den Quasterl sogar. Diese undefinierbare Ruhe, dieses klaglose Ertragen – vielleicht war er glücklicher als ich. Ich? – Was war ich denn, wenn ich mich ganz ehrlich beurteilte? Ein haltloser, überheblicher Lump. Der Maurus fiel mir wieder ein. Vom Magen herauf drang etwas zur Gurgel. Zum Speien war mir.
    Sonderbarerweise wollte ich unbedingt mit dem Quasterl näher zusammenkommen. Er hatte mir die Adresse einer Mineralwasser-Fabrik genannt, bei welcher er Arbeit bekommen sollte. Ich ging hin und fand ihn. Wir trafen uns nach Geschäftsschluß, und ich freute mich sehr. Seine schwitzenden Hände zeigten frisch aufgeworfene Schwielen und waren da und dort blutig geschunden. Müde und abgerackert sah er aus. Ich begann ihm von der anarchistischen Lehre zu erzählen. Er hörte kaum hin und verstand nicht. Ich holte ihn dennoch oft und oft vom Geschäft ab. Immer und immer wollte ich eine Unterhaltung mit ihm beginnen. Mitunter drängte es mich sogar, ihm zu beichten. Doch er blieb stets teilnahmslos und uninteressiert. Fortwährend sagte er sein tonloses »freilich-freilich, selbstredend« heraus. Nur einmal fing er an, von einer Finny zu reden.
    »Net wahr, freilich, freilich, die Finny hat ja recht«, sagte er, »heiraten, sagt sie, soll ich sie … Selbstredend, zwei verdienen mehr als einer, freilich. Selbstredend.«
    »Was? Quasterl? … Du und heiraten? Du?« rief ich verdutzt. Nicht eine Wimper in seinem pickligen Gesicht zuckte. Unergriffen berichtete er, daß die Finny Ladnerin bei seiner Firma sei und schon alle Heiratspapiere besorgt habe.
    Etliche Wochen später, als ich in den weitläufigen Laden kam, sah ich Finny, die schon einen leicht gewölbten Bauch hatte. Sie hatte ein verweintes Gesicht.
    »Er ist vom Aufzug gestürzt … Im Krankenhaus«, brachte sie nur heraus. Das Blut stockte mir. Auf der Stelle fuhr ich zum Krankenhaus.
    Im weiten Saal lag der schwerverletzte Quasterl wie leblos in seinem Bett. Sein Kopf war dickverbunden. Er rührte sich nicht. Sein halbverdecktes Gesicht war krankhaft gedunsen und blau angelaufen. Seine Augen zeigten einen glasigen, starren Schimmer.
    »Quasterl? … Hast du Schmerzen?« fragte ich und schluckte bedrückt.
    »Ja-aa, selbstredend, frei-lich … I-in so einem großen Geschäft, da-da gibt’s Unfälle, f-freilich«, brachte er mühsam heraus, »die Finny, freilich-freilich –« Er brach ab und röchelte schmerzgeplagt.
    Am anderen Tag war er tot. Die Roßkopfs ließen ihn auf die billigste Weise begraben. Ich stand auf dem Friedhof vor dem aufgeworfenen Grab und blickte auf den schiefgedrückten Stein, den mein Vater einst für die Kathl hatte setzen lassen. Ausdrücklich hatte er sich ausbedungen, daß die Roßkopfs als

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