Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Abendessen herein. Er hatte sich niedergelegt und las ein Buch. Die Theres machte die ganze Zeit ihr ungutes Gesicht her, und auch Mutter, Emma und ich blieben einsilbig.
»Da, Oskar, das hab’ ich grad übrig! Nimm’s nur!« flüsterte Emma mir zu, als Theres kurz aus der Kuchl gegangen war, und gab mir fünf Mark. Mutter setzte geschwind dazu: »Ja, und ich pack’ dir morgen schon was zum Essen ein.« Ich nickte stumm.
Sehr früh am anderen Tag, als noch alle schliefen, nahm ich von der Mutter Abschied. »Ein Elend ist’s! Nie kommt ihr aus miteinander«, sagte sie, gab mir das Paket und wurde zärtlicher, »da … So, und jetzt viel Glück!« Ich sah, wie ihr Kinn leicht zu zittern anfing, wie sie schluckte, und ging rasch davon. Draußen fühlte ich, daß sie mir durchs Fenster nachschaute. Als ich an unserem Vaterhaus vorüberkam, sah ich Monis dickes, rundes Gesicht hinter den Scheiben. Wütend spuckte ich aus und ging geschwind weiter. Nach einigen Tagen fand ich in München als Bäcker Arbeit, aber es hielt mich nicht. Eine unerklärliche Unruhe rumorte in mir. Fort wollte ich, nur fort. Wohin, war gleichgültig.
Da der erste Geselle ein kriecherischer Denunziant war, schlug ich eines Morgens, nachdem wir in Streit geraten waren, alles kurz und klein. Fast ohne Geld fuhr ich noch am selben Abend nach Berlin. Als Vagabund fand ich rasch wieder in die Kreise jener wilden Boheme, die mir ihre wirren, verstiegenen Ideen beizubringen suchten. Sie halfen mir aber auch. Wie gewöhnlich streunte man herum, ging in die Kaffeehäuser, pumpte Geld, aß irgendwo und schlug saufend und diskutierend die Nacht tot. Diese Leute hatten eine eigene, mit vielen Modeworten gespickte Ausdrucksweise, die ich – da ich in der Schweiz nie mit ihresgleichen zusammengekommen war – nicht sogleich wieder enträtseln konnte. Immer aber noch bewunderte ich jeden redseligen Taugenichts, von dem irgendwo eine Zeile gedruckt worden war. Zwar lehnten sie die »bürgerliche Gesellschaft« schroff ab, waren für eine individuelle Ethik und Moral und pflegten die freie Liebe, zwar verachteten sie alle gegenwärtige erfolgreiche Kunst und Literatur, nichtsdestoweniger aber gierte jeder von ihnen heiß danach, von diesem »Bürgertum« anerkannt zu werden. Aber das sagte man nicht. Wenn jemand offen sagte, daß er ihre futuristischen und expressionistischen Gedichte, Bücher oder Bilder nicht verstehe, wurde er nur mitleidig belächelt. Er galt als Mensch niederster Sorte.
Die »Bohemiens« wußten so wenig wie ich, wohin sie eigentlich gehörten. Zwischen dem breiten Volk, dem Bürgertum und der Oberklasse bildeten sie eine eigene, ganz in sich versponnene Schicht. Einem aber begegnete ich bei ihnen wieder: Genau wie Mühsam waren sie äußerst staatsfeindlich und schwärmten für irgendwelche »Gemeinschaft«. Sie lehnten radikal alles Militaristische ab, und es gab auch einige, die ernstlich für die Dienstpflichtverweigerung waren. Da ich seit der Zucht Maxls ein unausrottbares Grauen vor allem Soldatischen hatte und zu jener Zeit eben auf die Schriften Leo Tolstois stieß, bestärkten sie mich in jener Richtung, die ich später einnahm. Im übrigen war gerade damals fast jeder zivile Mensch aufgebracht über die zunehmende Militärherrschaft. In dem kleinen elsässischen Garnisonstädtchen Zabern hatten einige angeheiterte Offiziere durch ihr herausforderndes, rüpelhaftes Benehmen das Publikum rebellisch gemacht, und der Regimentskommandeur – der nachmalige radikale Pazifist General von Deimling – ließ einfach einige Demonstranten von den Soldaten einfangen. Er sperrte sie über Nacht in den Kasernenkeller. Dieser allzu freche Übergriff empörte allseits, und im Reichstag mußte die Regierung sich eine Mißbilligung aller Parteien gefallen lassen. Die Sozialdemokraten bekamen Zulauf.
Nur die Menschen, mit denen ich herumlief, kümmerten sich nicht um diese »antikünstlerische, ordinäre Tagespolitik«.
Ich schrieb damals meine ersten Gedichte, und da die Wochenzeitschrift ›Aktion‹ einige abdruckte, kam ich mir schon vor, als gehörte ich ganz in diese Kreise. Viele Nächte durchsoff ich mit zufälligen Kaffeehausbekannten, lebte sinnlos dahin, hungerte viel, und am meisten hungerte ich nach einem Menschen.
Berlin war bewegt wie jede große Weltstadt. Ihre unbarmherzige Tüchtigkeit machte jeden hart, aber auch großzügig. Schön war an diesem steinernen Meer fast nichts. Bismarck, der alte und der jetzige
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