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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Kaiser hatten allem Baulichen ihren barbarischen Geschmack aufgedrängt. Das beachteten aber nur wenige. Die Menschen hatten keine Zeit. Das Tempo ergriff alle: die Bankherren, die Politiker, die rasch in die Höhe gekommenen Geschäftsleute und die Geistigen. Das breite Volk arbeitete mehr als anderswo. Es war auch geweckter als anderswo, besaß einen kalten, scharfen Witz und wenig Sinn für das Geruhig-Idyllische.
    Die Hotels waren voll. In den bekannten Lokalen drängte sich mittags und abends die elegante internationale Welt. Ein breiter, draufgängerischer und etwas lärmender Wohlstand schien vorzuherrschen. Die Armut war weit weg in die düsteren Außenviertel geschoben. Die Theater brachten kühne Uraufführungen, die Kunstausstellungen erregten mitunter ein Aufsehen, das an Skandal grenzte, und weitberühmt waren die Varietés. Stündlich warfen die riesigen Zeitungshäuser ihre unzähligen Blätter in die Menge. Dicke Schlagzeilen lockten den Leser an, und – kaum aufgenommen – wurde die letzte Neuigkeit schon wieder von einer allerletzten überholt. Tag und Nacht durchzog ein unaufhörliches Stampfen, Lärmen und Brausen die menschenüberfüllten Straßen und Plätze. –
    Der Winter verging. Im Tiergarten prangte mit einem Male das frische Grün wieder, die dicken Fliederbüsche der Anlagen blühten und dufteten berauschend, und dann kamen die Rosen. Die meisten besseren Familien waren bereits aufs Land gefahren. Kochend heiß brütete die sommerliche Sonne über der Stadt.
    »Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand! … Attentat! Attentat!« plärrten die flinken Zeitungsjungen und schwangen sich mit ihren Mittagsblättern in die Straßenbahnen. Die Menschen reckten die Köpfe, auf den Straßen liefen Hunderte und rotteten sich zu dichten Haufen.
    »Kriegsgrund! Serbien will den Krieg! Rußland bietet Rückendeckung!« trompeteten schon wieder neu auftauchende Zeitungsverkäufer, die jagend dahinliefen. Die Zeitungen wurden ihnen aus der Hand gerissen. Der ganze Verkehr kam augenblicks ins Stocken. Die Schutzleute drängten die wogenden Menschenmassen auf die Trottoire. Der weiterfließende Strom wuchs und wuchs. Geschäftig und erregt redeten die Leute ineinander. Es hörte sich an wie ein unablässiges, blecherndes Geräusch. Der riesige Potsdamer Platz war auf einmal schwarz von Menschen.
    Und so ging es nun Tag für Tag und Nacht für Nacht, einen ganzen Monat lang. Die Menge kochte zuletzt vor Gereiztheit, schrie, drohte, sang patriotische Lieder und wälzte sich unausgesetzt durch die Stadt. Niemand dachte mehr an das Tägliche, an den Schlaf. Die Sozialdemokraten gaben warnende Erklärungen ab und sprachen sich gegen den Krieg aus.
    »Man müßte etwas tun … Flugzettel schreiben!« sagten einige Intellektuelle im Kaffeehaus. Andere machten sanguinische Witze.
    »Ultimatum Österreichs an Serbien!« bellten eines Tages die Zeitungsjungen. Man erdrückte sie fast. Die Stadt schien aufgeschreckt wie nie. Sie glich einem schwirrenden Bienenschwarm. Und wieder hämmerte es: »Kriegserklärung Österreichs an Serbien! Mobilmachung in Rußland!«
    Vor den Zeitungshäusern stauten sich dichte Scharen. Kopf an Kopf standen Tausende und Abertausende vor dem kaiserlichen Schloß Unter den Linden und vor dem altmodischen Reichskanzler-Palais in der Wilhelmstraße. Stundenlang wogten sie hin und her, johlten, schrien bald »Nieder!« bald »Hoch!« und brüllten die kriegerischen Lieder, die man sonst nur in Kasernen hörte. Schon zogen dumpfschrittig in Vierer-Reihen lange Kolonnen mit Koffern solchen Kasernen zu. Bärtige Arbeiter waren es, die mitunter kecke Witze in die gaffende Menge schrien. Hinter ihnen fuhren hochbepackte Wagen mit frischem Lederzeug und Uniformen. Die Menge jubelte begeistert, alles sang mit einem Male das ›Deutschlandlied‹ und jeder entblößte den Kopf.
    »Serbien muß sterbien!« schrie ein Mann und übertönte alle. Gelächter und wilder Beifall brausten auf.
    »Da mach was! Jetzt sind sie alle besoffen!« brummte ein alter Mann neben mir.
    »Wat? … Wat denn? Wat!« kläffte es von allen Seiten, und schon stürzten sich die Nächststehenden auf den Mann. Ein Geraufe entstand, die Menschen purzelten übereinander, grell schrien die Frauen auf. Ich schob mich entsetzt seitwärts in die Menge.
    »Der Kaiser spricht! Krieg ist erklärt!« hörte ich, und alles begann zu laufen. Auf dem weiten Schloßplatz stand ich unter Tausenden und sah zum Balkon empor. Da standen

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