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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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dickbetreßte Militärs und einige steife Zivilisten um den gestikulierenden Kaiser, dessen heiseres, schreiendes Reden nicht zu verstehen war und sich anhörte wie das Krähen eines stotternden Hahns.
    »Hoch! Hoch Deutschland! Nieder mit Frankreich! Nieder!« brüllte es immer wieder. Kalt durchrieselte es mich. Ich drängte mich aus dem Gewühl und kam nach stundenlangem Herumwandern in der Wohnung meines Kameraden an, bei dem ich wohnte. Er war ein hartnäckiger Kriegsdienstverweigerer.
    »Wo ist denn der Franz?« fragte ich seine lange, hagere Frau Margot mit dem kunstgewerblichen Haarschnitt.
    »Na, wo wird er denn sein! Die sind doch alle in die Kasernen! Stellen sich alle freiwillig!« sagte sie gleichgültig.
    »Wa-was? Was?!!« starrte ich sie fassungslos an. Sie staunte.
    »Naja, wenn sie sich freiwillig melden, kommen sie doch in bessere Regimenter«, klärte sie mich nebenher auf. Meine Lippen klappten aufeinander. Ein leichter Schwindel ergriff mich. Wie geistesabwesend glotzte ich.
    »Na, was glotzte denn so? … Komm, gehn wir ins Café des Westens!« sagte sie ungestört, »Franz hat Geld rausgerückt, bevor er gegangen ist.« Sie führten ein zänkisches, häßliches Leben miteinander. Ich mußte mich aber mit beiden verhalten, denn ich hatte nichts.
    »Komm doch! Was ist denn mit dir?« wiederholte sie. Mechanisch folgte ich ihr. Auf dem ganzen Weg brummte es unablässig im meinem Kopf: An wen kann man sich überhaupt noch halten? Was gelten denn all diese schönen Sprüche, die diese Leute fortwährend hersagen? Was gilt überhaupt noch, was denn?
    Im Café des Westens war es gähnend leer. ›Chauvinistische Hochflut in Paris! Jean Jaurès von Nationalisten ermordet!‹ lautete eine dicke Zeitungsüberschrift. Also dort genau wie bei uns, dachte ich. Von Jaurès hatte ich gelesen, daß er für internationale Schiedsgerichte eingetreten war, daß er den Krieg stets tief verabscheute. Er war als sein erstes Opfer gefallen.
    Der alte Kellner erzählte uns ebenfalls, daß alle unsere Bekannten in den Exerzierhöfen der Kasernen Schlange ständen, um sich freiwillig zu melden.
    »Da siehst du’s!« sagte Margot, »was willst du denn eigentlich, du Bauer mit dem dicken Kopf? Sie holen dich ja doch!«
    »Jaja, zwingen wird man mich schließlich«, gab ich zu und schwieg wieder. Ich preßte meinen Kopf fest zusammen, mit beiden Händen, als wollte ich jeden Gedanken aus ihm herauspressen.
    »T-ha, und die haben mich lehren wollen! Die! An die hab’ ich geglaubt!« sagte ich erbittert nach einer Weile, stand auf und ging davon. Drei Tage trieb ich mich herum und erfragte endlich, daß – wenn man sich freiwillig melde – jeder einen Freifahrtschein bis zu der Garnisonstadt von der Polizei bekomme, bei welcher er dienen wolle. Eugens drittes Infanterieregiment in Augsburg fiel mir von ungefähr ein. Vor dem Kommissar eines Wilmersdorfer Reviers stellte ich mich hölzern stramm und leierte forsch herunter, daß ich Bayer sei und in meiner Heimat dem Vaterland freiwillig dienen wolle. Der spitzbärtige, bebrillte Mann war freundlich und schrieb mir den Zettel. Ich ging sofort zum Anhalter Bahnhof und drängte mich in den überfüllten Zug. Vier Tage und Nächte fuhren wir kreuz und quer durch Deutschland und wurden an jeder Station reichlich verpflegt, so reichlich, daß wir die Butterbrote und Kuchenstücke oft wegwarfen. In Augsburg stieg ich nicht aus. Ich dachte nicht daran, Soldat zu werden. Frech blieb ich im Zug sitzen und erreichte München. Als ich auf die Straßen kam, staunte ich. Ruhig war es wie in tiefstem Frieden. Man sah nur viele Soldaten in neuen feldgrauen Uniformen. Manchmal zog auch so ein Trupp Feldgrauer singend zum Bahnhof oder in eine Kaserne. Die Leute blieben wohl stehen, winkten ihnen zu, und die Kinder liefen mit, aber das allgemeine Leben schien noch nicht allzu fühlbar von den Ereignissen beeinflußt.
    Ich wanderte ins Künstlerviertel, um meinen Freund Georg aus dem Mühsamkreis aufzusuchen. Er, der frühere Konditor, war jetzt Kunstmaler geworden. Sein Atelier war verschlossen. »Hm«, brummte ich bitter, »wahrscheinlich wieder einer, der sich freiwillig gestellt hat.« Da hörte ich Schritte über die Treppe heraufkommen und erkannte, in die Tiefe schauend, meinen Freund. Er freute sich aufrichtig, daß ich gekommen war, und bot mir an, einstweilen bei ihm zu wohnen. Er hatte sich nicht verändert und wartete ab. Ich erzählte ihm von unseren gemeinsamen Berliner

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