Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Bekannten und ihrer Haltung.
»Mensch«, rief er, »man kennt sich nicht mehr aus. Sie sind doch die Intellektuellen … Grad von ihnen hab’ ich so was am wenigsten geglaubt … Alle haben den Kopf verloren … Hast du gelesen, die Sozialdemokraten sind jetzt auf einmal auch für den Krieg. Sie haben die Kredite bewilligt und einen Burgfrieden mit Kaiser und Regierung geschlossen! Ich begreif’ das nicht! Ich versteh’ das ganze Volk nicht mehr!«
»Das Volk? … Ah, das ist doch nicht das Volk!« widersprach ich, »das Volk ist ganz anders. Wetten wir, daß das Volk überall genau so friedlich und geduldig ist wie bei uns … Es läßt sich überall belügen und zu allem mißbrauchen! … Geh mir aber bloß zu mit diesen Herrn intellektuellen, an die wir bis jetzt geglaubt haben! Die sind noch schlimmer als Kaiser und Regierung. Es sind die niedrigsten Verräter, weiter nichts!« Und plötzlich schoß mir ein erhellender Gedanke durch den Kopf.
»Das Volk? … Ja, jetzt begreif’ ich’s erst – das Volk, das ist ungefähr so wie meine Mutter … Sicher, ganz sicher!« sagte ich. Eine Ergriffenheit überkam mich, als ich in dieser Richtung weiterdachte.
»Hm, das ist mir zu symbolisch! … Das wär’ ja zum Verrücktwerden! So ein Volk, wie du’s da in deinem Hirn zurechtmachst, das bringt man ja überhaupt nie weiter!« stritt mein Freund.
»O ja, vielleicht bringt man’s auch weiter, aber zuerst muß man es lieben«, antwortete ich noch immer ergriffen, »nur was man liebt, gewinnt man … ich glaub’, jetzt begreif’ ich, warum diese Herrn Intellektuellen so versagt haben … Sie haben das Volk überhaupt nie gekannt und geliebt schon überhaupt nie!«
»Ah! Ah, du mit deinen Tolstoi-Ideen, geh mir zu!« gab Georg nicht nach und briet mir auf dem Spiritus-Apparat ein paar Eier. Ich stand auf und schaute durch das hohe Fenster über die Dächer der langsam verdämmernden Stadt.
»Tolstoi? Der hat mir bis jetzt am meisten gegeben!« sagte ich nach einer Weile und wandte mich um, »und siehst du, meine Mutter, die muß ich jetzt sehn. Ich weiß ja genau, daß dabei gar nichts Besonderes ist, aber – ich weiß nicht, siehst du … an sie allein kann ich noch immer glauben. Nur an sie!« Zum erstenmal in meinem ganzen bisherigen Leben durchströmte mich ein grundgutes Gefühl. Doch ich wollte es nicht zeigen und machte schnell einen dummen Witz …
In den zwei Wochen, die ich noch in München blieb, veränderte sich das Gesicht der Stadt doch ein wenig. Die zahlreichen französischen und englischen Aufschriften der vornehmen Auslagefenster verschwanden. Der alte graubärtige König sprach einmal vom Balkon seiner Residenz. Aus dem gegenüberliegenden, von alten Kastanienbäumen beschatteten Hofgarten-Café kamen zahlreiche Gäste herbei. Zufällige Spaziergänger und Straßenpassanten gesellten sich dazu. Es mochten vielleicht vier- bis fünfhundert Menschen sein, die ein wenig neugierig und unerregt zum Balkon emporschauten. Der König Ludwig III., an den man sich zwar gewöhnt hatte, der indessen nie populär war, sprach unpathetisch, und seine Worte waren anheimelnd dialektgefärbt. Er sagte ungefähr, daß uns nun einmal der Krieg aufgezwungen worden sei, und ein jeder müsse jetzt eben seine Pflicht tun, bis Gott, der Herr, uns zu einer günstigen Entscheidung verhelfe. Er war schon über sechzig Jahre alt und ein einfacher, streng katholischer Mensch, der sich hauptsächlich für Landwirtschaft interessierte. Immer noch verübelten ihm die Leute, daß er als der älteste Sohn des inzwischen verstorbenen Prinzregenten Luitpold sich gegen das verfassungsmäßige Recht hatte zum König ernennen lassen, obgleich der Bruder König Ludwigs II., der geisteskranke Otto, noch lebte, und nach dem Buchstaben ein Anrecht auf den Thron gehabt hätte.
»Und nun mit Gott für unser Vaterland!« schloß der König schlicht und ein wenig unvermittelt. Da und dort riefen einige »Hoch!« oder klatschten, und schließlich stimmten alle die Hymne ›Gott mit dir, du Land der Bayern!‹ an. Der König verschwand. Diskutierend gingen die Leute auseinander. Um einen hochgewachsenen Kellner, der vorgab, schon in der ganzen Welt herumgekommen zu sein, scharte sich ein kleine Gruppe.
»Aufgezwungen, sagt er, ist uns der Krieg? Jaja, das mag schon stimmen«, meinte der Kellner, »aber von wem denn? Das fragt sich erst noch!« Kühn schaute er um sich.
»Ich kenn’ die Franzosen und die Russen! In
Weitere Kostenlose Bücher