Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Brüssel war ich zwei Jahre Zimmerkellner, und durch Serbien bin ich gewandert«, fuhr er fort, »ich leg’ meine Hand ins Feuer, daß die kleinen Leute dort nichts gegen uns haben. Es sind immer bloß die Großen!« Etliche nickten. Ich dachte an meine Diskussionen mit Georg, wieder fiel mir meine Mutter ein und Tolstois Satz: »Wenn die Menschen es doch begreifen wollten, daß sie nicht die Kinder irgendwelcher Vaterländer, sondern die Kinder Gottes sind –«
Ja, hier mußte etwas richtig sein! Ganz bestimmt! – Zweioder dreimal rottete sich in der inneren Stadt ganz plötzlich ein lärmender Haufen zusammen, lief einem vermeintlichen Spion nach, schlug auf ihn ein oder demolierte ein Café, bis die Polizei eingriff. Einen harmlosen Artisten zertrampelten sie buchstäblich. Es schienen immer die gleichen Gesichter zu sein, die sich bei solchen Exzessen beteiligten.
»Ich geh’ ins Krankenhaus … ich hab’ mir einen wunderschönen Rheumatismus angeschafft«, sagte Georg einmal zu mir und humpelte, auf zwei Stöcke gestützt, aus seinem Atelier, »vorläufig müssen sie schon ohne mich kriegführen.« Das gefiel mir. Mit dem letzten Geld, das er mir borgen konnte, fuhr ich nach Hause. Der August ging schon langsam zu Ende. Die deutschen Heere waren in das neutrale Belgien eingedrungen und hatten Lüttich, Antwerpen und Lille genommen. An den Biertischen redeten die behäbigen Münchener Bürger viel von der »dicken Berta«, einem neuen Riesengeschütz aus der Kruppschen Fabrik, das wahre Wunder an Zerstörung vollbringe, und fast jeden Tag schoben sie die Fahnen aus ihren Fenstern. Die Domglocken läuteten, die fettgedruckten gelben Telegramm-Anschläge der größten Zeitungen meldeten Sieg auf Sieg. –
Dunstiger, angedunkelter Dämmer lag schon auf den gemähten, schräg abfallenden Wiesen und Getreideäckern von Kempfenhausen, als ich auf der staubigen Starnberger Landstraße heimwärts ging. Ich kam an der Barjatinsky-Villa vorüber. Still und leer lag alles da. Dann am Sommersitz der Ratibors. Leer. An der Villa der Madame de Osa. Leer. Nachdenklich ging ich weiter. Der kühle Wald strömte einen würzigen Kieferngeruch aus. Scheue Eichhörnchen wippten mitunter über die Straße, stockten kurz und glotzten mich staunend an. Dann hüpften sie weiter.
Im Dorf leuchteten schon da und dort die gelben Lichter hinter den kleinen Fenstern.
Ich klopfte ein paarmal an die verschlossene Tür des Kramerhauses.
»Wer ist denn da?« fragte endlich die mürrische Stimme der Kramer-Marie, und als ich angab, öffnete sie und redete weiter: »Ja, Oskar? … Die Mutter und die Schwestern sind ja schon, seitdem der Maxl in den Krieg fort ist, ins alte Haus hinuntergezogen!«
»Soso … Gute Nacht«, nickte ich dankend.
Als ich kurz darauf durch die Ladentür unseres Vaterhauses schritt, kam die Moni aus der Kuchl und rief: »Jahja, der Oskar? Wo kommst denn du her?«
»Ja, jetzt ist Krieg! Jetzt wird alles vom Erdboden wegrasiert!« stieß ich in einem plötzlichen Anflug von wütendem Galgenhumor heraus und kam mit ihr in die Kuchl.
»Soso, bist jetzt da?« sagte meine Mutter unverwundert, als hätte ich nur einen Spaziergang gemacht, »so, hm … Der Maxl und der Maurus sind schon lange im Krieg. Mußt denn du nicht fort?«
»Ich geh’ erst, wenn sie mich holen … Ich hab’ den Krieg nicht gemacht und gewollt«, antwortete ich keck.
»Na, dann ist wenigstens einer da, der mit dem Ottl bakken kann«, meinte sie ohne weiteres, »mir wird das elendig hart mit meinen offenen Füßen.«
Bis jetzt hatte sie mit dem Lehrling nachts gearbeitet, da kein Geselle mehr aufzutreiben war. Und das Geschäft mußte doch weitergehen.
»Hm, der elendige Krieg!« murrte sie mehr für sich. »Zu was jetzt der gut sein soll … In jedem Haus sind die besten Mannsbilder fort, hmhm, jetzt mitten im Sommer! … Der Eugen hat schon recht gehabt …«
Wie immer stellte sie mir den Kaffee hin. »Da! … Hast schon gegessen? … Ein kalt’s Schweinernes ist noch da, aber recht fett ist’s.«
Sie humpelte viel ärger.
Die Theres leitete die Buchführung und das Geschäft, die viel magerer gewordene, kränkliche Emma nähte noch für fremde Leute und half ab und zu im Hauswesen mit, die Moni tat wenig, plagte sich jeden Tag, ein trauriges Kriegerfrauengesicht zu machen, packte ein Feldpostpaket für den Maxl ein und schrieb ihm lange Briefe. Wie einst, als wir noch klein waren, hingen jetzt ihre Kinder am Rock
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