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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Schüsse fielen. Niemand erschrak sonderlich darüber, und offenbar war keiner getroffen. Wir kamen zum Militärgefängnis und befreiten die Inhaftierten. Die wollten sich an ihren Wächtern rächen, doch diese waren längst verschwunden. Unsere mehr und mehr anwachsende, schreiende Masse wälzte sich in die Stadt zurück. Die Rolläden der Geschäfte sausten herunter. Hin und wieder, wenn ein zufällig des Weges daherkommender, überraschter Offizier auftauchte, gab es eine Stockung. Flüche schwirrten auf, Fäuste hoben sich. Der Mensch wurde aschfahl, sah verschreckt und flehend um sich, die Achselstücke und Kokarden wurden ihm heruntergerissen, er erhielt derbe Stöße und machte sich, so gut das bei dem Gedränge und Geschiebe ging, davon.
    Obgleich die Sozialdemokraten dies alles verhindern und nur ruhig vor das Regierungsgebäude ziehen wollten, um einige Forderungen vorzubringen – bei Hereinbruch der Nacht hatten die Eisner-Leute die Macht in ihrer Hand. Der alte König war mit seiner Familie ins Gebirge geflohen. Rote Fahnen wehten auf allen Amtsgebäuden und sogar auf den Türmen der Frauenkirche. Am andern Tag verkündete ein Aufruf der »provisorischen Regierung« Eisners, der in allen Zeitungen stand und an den Litfaßsäulen klebte, daß Bayern eine Republik sei und eine sozialistische Freiheit aufgebaut wurde. – Es war wie an einem ungewöhnlich lebhaften Sonntag. Die meisten Läden waren geschlossen. Niemand dachte an Arbeit. Wie neubelebt gingen dichte Scharen Neugieriger spazieren, freuten sich und wußten nicht warum.
    »Na, und wer hat jetzt recht behalten, du Idiot?« spöttelte mein begeisterter Freund. »Die Massen haben gesiegt!
    Jetzt hast du’s doch selber mitgemacht – das Volk macht Revolution!«
    »Ob das eine Revolution ist, weiß ich ja noch gar nicht. Gestern hat sie angefangen, heut ist schon wieder alles aus«, widerstritt ich ebenso. »Hm, auf einmal redest du auch vom Volk! Das Volk will ja nur keinen Krieg mehr und seine Ruhe haben! Du siehst’s doch, in den Kasernen zerbrechen die Soldaten ihre Gewehre oder verkaufen sie für ein paar Mark an den Nächstbesten. Sie werfen einfach alles hin und gehn heim … Das Volk ist bloß müd.« Dennoch war ich nicht weniger glücklich als er. Es hielt mich nirgends. Fortwährend durchwanderten wir zwei die belebten Straßen, um Neues zu sehen und zu erfahren.
    Die Arbeiterräte tagten in der großen Halle des »Mathäser-Bräu«, die Soldatenräte in den verschiedenen Kasernen, und die Vertreter der Parteien, welche für eine republikanische Staatsform waren, diskutierten im Landtagsgebäude. Öfter fuhren vollbesetzte Lastautos mit wehenden roten Fahnen und aufmontierten Maschinengewehren daher. Ihre bewaffneten Insassen wurden von der Menge johlend begrüßt und warfen Flugblätter ab. Jeder haschte gierig danach, denn durch sie erfuhr man die letzten Nachrichten.
    In ganz Deutschland hatten die Revolutionäre die vielen Landesfürsten und alten Regierungen vertrieben und die Republik ausgerufen. Aber schon saßen – von niemand gerufen und beauftragt – im Berliner Reichstagsgebäude die sozialdemokratischen Parteiführer Ebert und Scheidemann mit Genossen und einigen Linksradikalen und zerbrachen sich die Köpfe darüber, wie denn nun eigentlich regiert werden sollte. Es waren lauter Männer, die aus den Unterklassen, aus dem Volk, stammten: Ebenso unsicher, ebenso überrumpelt von dem, was gekommen war, und ihr ganzes Leben hindurch nicht weniger als dieses gewohnt, sich einer Disziplin unterzuordnen, die von den Herrschenden in Jahrhunderten ausgedacht worden war. Bieder und redlich versuchten sie, in das jäh hereingebrochene Neue, das ihnen im Grund genommen tief fremd blieb, eine sinnvolle Ordnung zu bringen, und wurden dabei immer ratloser.
    Wer nie danach getrachtet hat, einen Staat zu leiten und ein Volk zu regieren, und es nun auf einmal soll, dem ergeht es zunächst ungefähr wie einem bettelarmen Menschen, der plötzlich eine Million bekommt: Er bleibt nicht mehr er selber, wird verwirrt, und es befällt ihn zuletzt sogar Angst vor dem, was er tut. Schließlich geht er zu jenen, die das Geschäft des Regierens bisher betrieben haben, und fügt sich, ohne es eigentlich zu wollen, ihrem Rat.
    Darauf hatten die revolutionsfeindlichen Generale nur gewartet, und mit behutsamer, hartnäckiger Geschicklichkeit vernichteten sie wieder alles, was wirklich nach beginnender Republik und Demokratie aussah. Ohne ihr Zutun

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