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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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»Freiwilligenverbänden« ins Land. Sie sangen Spottlieder auf die Republik und spielten kaiserliche Parademärsche. Das Volk, das allein einem Staat Leben geben kann, wurde – wie die Offiziere forsch zu sagen pflegten – »kurz und klein gehauen und kirre gemacht«. –
    Einmal im Februar dieses schreckerfüllten Jahres 1919 erwachte ich in meinem kalten Atelier. Die Glocken aller Kirchen der Stadt läuteten dumpf. Ich kleidete mich rasch an und lief voll dunkler Ahnungen dem Stadtzentrum zu. Kurt Eisner war von einem jungen bayerischen Adeligen auf dem Wege zum Landtagsgebäude erschossen worden. In der Promenadestraße war noch die frische Blutlache. Einige Kränze lagen herum, zwei Soldaten standen da, und abgehärmte Frauen weinten leise. Auch harte Männer bekamen nasse Augen, wenn sie stumm stehen blieben und den Hut abnahmen.
    Eine Zeitlang schien es, als sei die ganze Stadt gelähmt. Dann griff jäh eine wilde Panik um sich. Vollbesetzte Lastautos rasten durch die Straßen, darauf standen bewaffnete Rotgardisten und schrien gellende Racherufe in die wintergraue Luft. Schon wieder hörte man das Herunterrasseln der Rolläden, und kein besser gekleideter Mensch war mehr zu sehen.
    Die Arbeiter sammelten sich in den großen Sälen. Schreck und Wut lag auf ihren Gesichtern. Im Landtagssaal, wo die Abgeordneten zusammengetreten waren, schoß ein Metzgergeselle den sozialdemokratischen Fraktionsführer und Minister Auer in die Brust. Ein zweiter Schuß traf den katholischen Abgeordneten Ösel, der tot umfiel, ein dritter einen Major. In kopfloser Panik rannten alle durcheinander, hinaus auf die menschenwogenden Straßen.
    Die revolutionären Arbeiterräte verhafteten ungefähr ein Dutzend hoher Offiziere und Adelige, die im Verdacht standen, mit dem Attentat auf Eisner zusammenzuhängen, und sperrten sie in die besten Zimmer des Hotels »Bayrischer Hof«. Die Sozialdemokraten befreiten sie schon nach einigen Stunden. Inzwischen hatten die Arbeiterräte Mitglieder des gegenrevolutionären Geheimklubs »Thule-Gesellschaft« festgenommen und brachten sie als Geiseln in das Luitpoldgymnasium, um weitere Befreiungsversuche zu verhindern.
    Eine merkwürdig unschlüssige Zerfahrenheit herrschte überall. Das tägliche Leben schien aus den Fugen. Unruhig und ziellos trieben die Menschen herum. Die Reichsregierung hatte Aufrufe zur Wahl einer Nationalversammlung verbreiten lassen. Frauen und Männer rissen die Anschläge von den Wänden, reckten die Fäuste und schrien: »Nieder mit der Verräter-Regierung Ebert-Scheidemann! Nieder mit dem Bluthund Noske!«
    Die Sozialdemokraten in Bayern, die bis jetzt – wenn auch nur widerwillig – mit Eisner die »provisorische Regierung« gebildet hatten, zogen sich mit den bürgerlichen Ministern nach Bamberg zurück und tagten als reichstreues Rumpfparlament weiter. In München dagegen riefen die Arbeiter eine »Räterepublik« aus. Zuerst leiteten Eisnerleute sie, dann die Kommunisten. Erregte Versammlungen und Debatten im Landtagsgebäude gab es. Bald zogen die Anhängerscharen der einen, dann wieder der anderen durch die Stadt. Doch das sonstige Leben wurde nicht einmal besonders gestört dadurch. Erst als die Bamberger Regierung Freiwillige anwarb und Noske zu Hilfe rief, strömten die Münchner Betriebsarbeiter zusammen und bewaffneten sich zur Abwehr. Eine »Rote Armee« wurde gegründet, die der Matrose Egelhofer leitete. Ernst Toller führte ein Kommando. Intellektuelle und Kommunisten waren Offiziere. Es mangelte an allem: an Geschützen, Gewehren, Munition und an erfahrener militärischer Führung.
    Draußen aber auf dem Land, in den Marktflecken und Gebirgsdörfern tauchten sehr leutselige, und wie sich bald herausstellte, auch sehr bemittelte Herren auf, denen es nie darauf ankam, zwei und drei Lagen Bier in den Wirtschaften zu zahlen. Sie gaben vor, glücklich aus der Münchner »Hölle« entwischt zu sein, und berichteten die furchtbarsten Dinge: Kein ordentlicher Mensch sei da drinnen seines Lebens mehr sicher, die Roten würden jeden Tag scharenweise umbringen und Frauen vergewaltigen, würden rauben und morden wie Wilde.
    »Und bald kommen sie auch zu euch raus, Bauern! Nichts ist mehr sicher vor ihnen!« sagten sie, und da wurden die Landleute und ganz besonders die vom Krieg heimgekommenen Soldaten wild und drohten: »Sollen nur kommen, die roten Lumpen!« Und fast in jedem Haus war ein Militärgewehr, war noch Munition, die der Feldsoldat heimgebracht

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