Das Leben meiner Mutter (German Edition)
kam ihnen dabei viel Unverstand der übrigen Welt zu Hilfe. Denn es war erstaunlich und erschütternd: Jene Massen, die gleich meiner Mutter den ganzen Krieg hindurch bis zur Erschöpfung gedarbt hatten, jene tapferen Millionen, die noch gestern im Grauen der Schützengräben gestanden, einen Zusammenbruch sondersgleichen erlebt hatten und nichts, aber auch schon gar nichts mehr vom Leben erwarteten – sie gingen schon nach wenigen Wochen der ersten Verwirrung wieder an den Pflug, in die Werkstätten, in die Fabriken und Büros und arbeiteten mehr denn je, ohne sich sonderlich darum zu kümmern, wer sie nun von neuem mißleiten und betrügen wollte. Ruhe, ein einigermaßen gesichertes Fortkommen und ein bißchen Glück wollten sie alle, weiter nichts.
Und – seltsam – das glaubte ihnen niemand mehr auf der Welt! »Boches« und »Hunnen« nannte man sie in den anderen Ländern, dachte dabei an Ludendorff, an den Kaiser und deren aggressive Hintermänner – und für deren Taten wollten nun die Sieger dieses Volk züchtigen!
In Versailles diktierten die Häupter des Sieges den deutschen Abgesandten einen gefährlichen Frieden.
Den Generalen war dadurch die Arbeit leicht gemacht. »Seht!« sagten sie, »s0 gehn die Feinde mit euch Millionen um! Und ihr? Was tut ihr? Statt euch zu einigen und diesem unerträglichen Zustand ein Ende zu machen, laßt ihr euch von hergelaufenen Revolutionären verwirren und um den letzten Rest eurer Kräfte bringen. So geht alles zugrunde, so wird nichts besser, so bleiben ganze Generationen bei uns tributpflichtige Sklaven!«
So redeten sie, so manifestierten sie sich, so ließen sie ihre Zeitungen schreiben, und niemand verwehrte es ihnen.
Um Weihnachten herum krachten um den Münchner Hauptbahnhof heftige Schüsse. Offiziere und beschäftigungslose, gedungene Soldaten versuchten einen Putsch gegen die Regierung Eisner. Die schwache »Republikanische Schutzgarde« und die schnell zusammengeströmten Arbeiter stürmten den Bahnhof. Tote und Verwundete lagen auf dem schneeigen Pflaster, aber die Putschisten waren vertrieben. Sie hatten Erich Mühsam in ein unbekanntes Zuchthaus verschleppt. Lange blieb sein Schicksal ungewiß.
Am Morgen besuchten Tausende den weiten Bahnhofsplatz.
»Da! Da sieht man noch das Blut!« sagte manchmal jemand, und alle sahen auf den rotgefärbten Schnee.
»Und da schaut! Die vielen Kugelspuren! … Allerhand das, allerhand!« meinten andere, und alles betrachtete neugierig die Einschüsse an den Hauswänden und die zersplitterten Fenster.
In Berlin weigerten sich die Betriebsarbeiter für Löhne zu arbeiten, mit denen sie nicht einmal einen Laib Brot kaufen konnten. In alten Militäranzügen und dünnen, zerfetzten Mänteln, der eine oder andere wohl bewaffnet, so bewegten sich diese Streikerzüge zum Reichstagsgebäude. Es war ein bitterkalter Januartag. Sie schlotterten frierend, und ihre leeren Mägen knurrten. Eine dumpfe Wut war in jedem. Sie verlangten Abhilfe, Enteignung der Fabrikherren und Verstaatlichung der Betriebe. Sie forderten das Kontrollrecht ihrer gewählten Arbeiterräte.
Doch die »Provisorische Regierung der Volksbeauftragten« empfing nicht einmal ihre Delegationen. Ebert, Scheidemann und ihr »Kriegskommissar« Gustav Noske riefen die kaiserlichen Generale zu Hilfe, denn es mußte »Ruhe und Ordnung« sein, damit die Republik aufgebaut werden könne. Die Generale hatten längst wieder aus abenteuerlichen Taugenichtsen und kriegsverwahrlosten Landsknechten eine Truppe zusammengebracht und zeigten sich sehr bereitwillig. Sie zogen mit Kanonen, Flammenwerfern, Panzerwagen und Maschinengewehren gegen die Arbeiter, die sich rasch in den Zeitungsgebäuden und hinter hastig errichteten Barrikaden verschanzt hatten. Ein erbitterter, tagelanger Kampf entbrannte. Hunderte von Arbeitern starben für die erhoffte Freiheit, im Glauben an die siegreiche republikanische Gerechtigkeit. Jeder von ihnen, der vor der Übermacht nicht fliehen konnte und sich ergab, hatte sein Leben gnadenlos verwirkt. Wahllos füsilierten die Soldaten. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die erst nach Ausbruch der Revolution aus dem Zuchthaus gekommen waren, wurden gefangen und viehisch ermordet.
In ganz Deutschland erhoben sich die erregten Arbeitermassen gegen die gedungenen Schlächter. Ein latenter Bürgerkrieg war im Anzug. In ihrer Hilflosigkeit sandten Ebert und Scheidemann abermals Noske und die Generale mit den verhaßten
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