Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Mutter mußte hinter ihnen her sein. Sie schimpfte, doch die Kinder nahmen es nicht ernst. Sie grollte ihnen, aber kaum kamen sie einmal einen Tag nicht, dann fragte sie den Maurus und die Theres nach ihnen. Allem Anschein nach brauchte sie Kinder um sich, und Verdrießlichkeiten gehörten eben dazu. Der kaum fünfjährige Lenzl von den drei Buben verbrühte sich einmal mit kochendem Wasser den ganzen Hals. Die Haut sprang platzend ab, und das blutig rote Fleisch kam zum Vorschein. Unsere Mutter erschrak heftig, als sie es hörte, und, obgleich Theres und Maurus es ihr verwehren wollten, wenn auch der Pius sie haßte und verachtete – sie lief, so wie sie war, ins alte Bäckerhaus hinunter und legte dem jammernden Lenzl kühlende, ölgetränkte Lappen auf, tröstete ihn zärtlich und ging erst, als der Doktor gekommen war.
»Ja, Herrgott, sie sollen sich doch selber um ihre Kinder kümmern! Der Doktor wird den Lenzl schon kurieren!« murrte die Theres, als sie heimkam ins Kramerhaus.
Der Maurus legte die Zeitung hin und schimpfte ebenso: »Ich versteh’ dich nicht, Mutter! Du hast schon gar keinen Stolz! Wie du nur zu dem Kerl noch ins Haus gehen kannst! Das sind doch nicht deine Kinder!«
»Ich hab’ doch mit dem Pius gar nicht geredet«, sagte sie verständnislos, »was haben sie denn schon Schönes, dem Maxl seine Kinder? Die Moni kümmert sich nicht um sie, und der Pius mag sie nicht … So können sie doch nie was Rechtes werden!«
Nein, so nicht! Was galt da starrer Stolz, wenn’s um Kinder ging! Unsere Mutter wußte es tiefer als alle, daß kein Mensch »was Rechtes wird«, wenn er in der Kindheit nicht geliebt wird. Nachdenklich schüttelte der Maurus den Kopf: »Hm, Mutter, du bist was Unbegreifliches! Du lebst nur, wie der Augenblick dich braucht! … Sonderbar!« Er sah ihr in die Augen und merkte, daß sie nichts verstand und wahrscheinlich noch immer glaubte, man schimpfe sie. »Verstehst du? Wir sind alle anders als du. . . Ich hab’ den ganzen Krieg mitmachen müssen, jetzt bin ich daheim – na, gut, leben kann ich schlecht und recht, mit dem Schnaps verdien’ ich was, aber in der Konditorei sieht’s schlecht aus. Weiß Gott, ob ich mir überhaupt jemals eine richtige Existenz aufbauen kann. Jetzt gibt’s wieder kein Mehl, keinen Zucker! Zum Todärgern! Immer schlechter wird’s. Ein Mensch, der bei uns einen guten Beruf gelernt hat, kommt nicht weiter damit … Die Nanndl hat ganz recht, daß sie nach Amerika geht … Ja, wir sind ganz anders, aber du? Du, Mutter, bist, glaub’ ich, fast mehr wert wie wir alle … Hmhm! Sonderbar!« Zuerst war er noch verzagt und mürrisch gewesen, nun lebte sein Gesicht wieder auf.
»Ah, die Nanndl wird doch nicht nach Amerika gehn! Geh, so weit weg! Sie hat doch jetzt ausgelernt und ihr Fortkommen«, sagte Mutter in sein Nachdenken hinein. Schon lang wußten wir, daß Anna zu Eugen und Lenz über den Ozean wollte, nur sie wollte es nicht wahrhaben. Der Maurus ging nicht auf ihre Worte ein. Immer noch in Gedanken redete er weiter: »Ja, Mutter, du bist aus einer anderen Welt … Vielleicht bist du sogar wirklich glücklich … Wir haben Nerven und haben lauter so fixe Ideen vom Leben. Wir sind viel schwächer, wir sind vielleicht alle krank – du? Du bist gesund, du allein! Du lebst einfach und weiter gar nichts!«
Unsere Mutter verstand kein Wort.
»Hm, was du da daherredest!«sagte sie halb wegwerfend. »Außer der Emma ist doch jedes gesund von euch!« Der Maurus gab die Unterhaltung auf. Er nahm die Zeitung wieder in die Hand und erzählte: »Jetzt haben die Generale wieder alles durcheinander gebracht! In Berlin ist der Kapp-Putsch! … Sie sind einfach mit ihren alten Regimentern eingezogen und haben die Ebert-Regierung davongejagt! Faktisch gibt’s jetzt überhaupt keine Regierung! … Was das wieder alles wird! Nichts hält mehr! Für unsereinen wird’s immer noch schlechter!« Sicher dachte Mutter: »Was geht denn uns das alles an! Ob die Herren gut oder schlecht regieren, ausbaden müssen’s ja doch nur immer wir!«
Interessiert las der Maurus für sich weiter: Der General Lüttwitz, ein giftiger, herausfordernder Hasser der Republik, den die republikanische Regierung trotz alledem zum Befehlshaber der ehemaligen Potsdamer Garderegimenter ernannt hatte, sammelte schon lange vor aller Augen die Kaisertreuen und Ludendorff-Anhänger um sich. Alle stellungslosen Offiziere und verärgerten Soldaten, die sich nicht mehr in den
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