Das Leben meiner Mutter (German Edition)
und zeigte auf ein riesiges, flammendrotes Plakat mit einem Hakenkreuz, das dicht mit fetten Lettern bedruckt war. »Jetzt heißt’s, die Juden sind an allem schuld … Wirst sehn, das zieht … Wenn in einer Misere ein Sündenbock gefunden ist, geht’s auch weiter …« Stehenbleibend lasen wir einige Sätze: »Deutsches Volk! Vier Jahre hast du in einem mörderischen Krieg gegen eine Welt von Feinden standgehalten! Jetzt regieren dich Schieber und Drückeberger, die nie einen Schützengraben gesehen haben! Das internationale Judentum schwingt tagtäglich die Hungerpeitsche über dich, und die angstschlotternden Berliner Regierungsbonzen machen schmutzige Handlangerdienste! Dafür dürfen diese ehemaligen Arbeiter in Frack und Smoking mit den ausländischen Schacherern und Blutsaugern prassen! Du, deutscher Arbeiter und Bauer, du, deutsche Mutter und Frau, deutscher Geschäftsmann und Gewerbetreibender – ihr alle müßt hungern und darben, damit der Versailler Raubvertrag, dieses satanische Versklavungswerkzeug der internationalen Geldjuden, erfüllt wird! Wehre dich, ausgehungertes deutsches Volk! Steh auf! Schart euch alle um die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei! Kommt zur Massenversammlung im Zirkus Krone! – Redner Adolf Hitler.«
»Ah, den Blödsinn nimmt doch kein Mensch ernst!« meinte Georg verächtlich. »Dieser Hitler ist doch bloß so ein verrückter Sektierer!«
Meine Schwester Anna hatte ihre Stellung bei dem Münchner Friseur aufgegeben und war heimgefahren, um alles zu ihrer Überfahrt nach Amerika zu regeln. Wir wollten uns noch alle daheim treffen und Abschied feiern. Der Maurus, der jetzt seine Konditorei etwas ausgebaut hatte und schon mehr Kuchen backen konnte, empfing mich mit den Worten: »Es ist gut, daß du kommst. Die Mutter ist arg niedergeschlagen … Du weißt doch, sie hängt doch so an der Nanndl.«
Ich kam in die winzige Kuchl. Die Tür stand offen. Draußen im sonnigen Garten saßen Mutter, Theres und Anna um einen weißgedeckten Tisch.
»So, da bist du ja jetzt!« sagte Mutter und goß mir Kaffee ein. Das Gespräch blieb eine Weile ziemlich einsilbig. Mich beschäftigten noch immer die politischen Ereignisse. Ich war noch gar nicht richtig da. Ziemlich teilnahmslos hörten die drei zu, als ich davon zu reden anfing.
»Ja, unser Pfarrer hat gesagt, der Hitler ist gegen den Glauben, er kommt vom Antichrist«, sagte meine Mutter einmal nebenher. Ich wunderte mich über das Wort »Antichrist«, denn es klang im Mund der Mutter, die so komplizierte Fremdwörter nie gebrauchte, ungewöhnlich.
»Jaja, Antichrist hat er gesagt, unser Pfarrer«, wiederholte sie auf meine Frage und setzte dazu: »Der ist ärger wie der Teufel! Wenn der einmal kommt, heißt es, dann steht die Welt nicht mehr lang.« Theres, Anna und ich lächelten ein wenig. Wir erinnerten uns, daß wir das einst aus der katholischen biblischen Geschichte in der Schule gelernt hatten.
»Ah, die Welt untergehn! … Mutter, was dir schon der Pfarrer alles sagt!« warf Theres hin, und Mutter fixierte uns mit einem geschwinden Blick und meinte: »Jaja, ihr glaubts ja alle nichts!« Sie fand Annas Augen und setzte verborgen bittend dazu: »Wennst in der Welt draußen bist, Nanndl, verlier mir fein deinen Glauben nicht … Geh fein öfter in die Kirch’ und beicht zu Ostern.« Sie war ernster geworden und fragte traurig: »Wann willst du denn morgen fahren?«
»Mittags mit dem Schiff nach Starnberg. Da sind wir ungefähr um zwei Uhr in der Stadt, und abends geht unser Zug nach Hamburg ab«, erwiderte Anna, und als sie Mutters wehmütiges Gesicht sah, schloß sie: »Du brauchst dich nichts zu kümmern, Mutter! Der Oskar begleitet mich ja bis Hamburg, und ich fahr’ doch zum Lenz und zum Eugen.«
So, als habe sie das alles nicht gehört, schaute Mutter wieder vor sich hin in die warme, beschattete Luft, und wie abwesend redete sie weiter: »Ich weiß noch gut, wie anno 83 die Stasl fort ist nach Amerika … Dann ist der Eugen hinüber … Den Lenz haben wir gar nicht mehr gesehn, wie er abgefahren ist … Jetzt sind bald mehr von uns in Amerika wie daheim …« Wieder streifte ihr Blick die Anna, und schmerzhaft bekümmert meinte sie: »Gell, ich hab’ dir einen Rosenkranz und ein Gebetbuch gekauft, Nanndl! Ich hab’s in deinen Handkoffer ’packt. Gell, du gehst mir schon in die Kirch’ in Amerika, Nanndl!«
»Jaja, Mutter«, versprach die Anna. Fliegen und Bienen summten. Der große
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