Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Herz indessen ist meistens froher über echtes Mitleid als über einen hilfreichen Rat. Die Resl hatte dabei nur eine wehmütige Miene und sagte: »Mein Gott, Girgl, du bist eine arme Haut.« Der alte Mann schluckte kurz, wurde leicht verlegen, räkelte sich, sagte manchmal auch: »Jaja, da hast wohl recht, Resei«, und er war wieder der gleiche, er hing irgendeine lustige Bemerkung daran.
Die letzten Februartage brachten unvermutet warme Winde. Der Schnee schmolz, und wie riesige Geschwüre brachen die braunen Äcker und Wiesenflächen aus der weiten weißen Decke. Tiefe, weite Rinnsale zeigten sich auf den glattgefahrenen, eisverkrusteten Wegen und Straßen. Klares Wasser rann darin, und wenn ein schwerer Schlitten oder Wagen darüberfuhr, brach er ein. Hochauf spritzte das Wasser. Am Himmel trieben durchsichtige Wolken, zogen sich aber nach und nach zusammen, und die Nächte wurden stürmisch. Regenvermischter Schnee fiel noch ab und zu, zerging aber sogleich und überschwemmte die Talwiesen.
»Wenn’s bloß nicht mehr friert«, meinte die Heimrathin besorgt, »das Abwaschen ist ja soweit ganz gut, und je eher ’s Frühjahr kommt, um so besser.« Sie saßen in der Stube, an den Spinnrädern. Kartoffeln lagen ja genug im Keller, zwei unangebrochene Sack Mehl lehnten in der Speise, aber das Saatgetreide war durch die letzten Pflichtlieferungen ans Heer zu knapp geworden, und ob das Heu für Viehfutter noch bis zum ersten Schnitt reichte, ließ sich nicht gewiß sagen.
»Herrgott, der Krieg! Der kann aufhören!« seufzte die Bäuerin einhaltend und schaute abwesend ins Leere. Der Wind drückte hart gegen die Hauswände. Die lockeren Fensterscheiben klirrten manchmal leise. Gestern hatte der Weber von Bachhausen endlich die zehn Ballen Leinwand gebracht. Sie lagen sauber aufeinander geschichtet draußen in den umfänglichen Schränken im Hausgang.
»Schön hat er’s diesmal gemacht, der Weber, aber lang hat er ’braucht«, sagte die Bäuerin zufriedener, und die Resl meinte, die heurigen Ballen seien viel glatter als die vorjährigen.
Zeit war es, zu Bett zu gehen. Die Stube leerte sich. Die Bäuerin löschte als letzte die Lampe aus, verriegelte die Kuchltür, und still wurde es im dunklen Haus. Alles schlief. Niemand hörte durch das pfeifende Heulen des Windes den Hund, der einige Male aufbellte und noch eine Weile nachknurrte. Dem Much-Girgl war es einmal, als höre er ein Quietschen und Kratzen, aber es konnte vom Wind sein. Später wachte er wieder auf und wußte nicht weswegen. Er schälte sich aus der dampfenden Bettdecke und ging von der ebenerdigen Knechtkammer in den warmen, dunklen Stall hinüber. Ein Roß schnaubte schwer, die schlafenden Kühe rührten sich leicht. Jetzt quietschte es wieder. Der Girgl lauschte, ging schnell in die Knechtkammer zurück, nahm sein feststehendes Messer und kam mit der Stall-Laterne daher. Er schaute prüfend die Viehstände an. Es fehlte nichts. Er kam in den Hausgang und sah, die Leinenschränke waren offen. Er lief zur Haustüre – sie war zu, aber der Riegel nicht vorgeschoben. Er kam wieder zu den Schränken. Die gähnten leer von oben bis unten. Einige Augenblicke blieb er fassunglos stehen, dann schrie er über die Stiege hinauf: »Bäuerin! He, Liesl, he! Bäuerin!« Nach kurzer Zeit rumpelten alle Weibsleute daher, und die Heimrathin, ihre Kinder und die Mägde schrien laut auf. Wirklich, die harte Bäuerin weinte bitterlich.
»Ich spann’ ein und fahr’ überall umeinander!« sagte der Girgl endlich und setzte dazu: »Mit soviel Leinwand kann der Lump nicht weit kommen!«
»Jaja, ja!« erwiderte die Heimrathin noch immer ziemlich hilflos, und sie verfluchte den Krieg, der ihr ein einziges, alleiniges altes Mannsbild auf dem großen Hof gelassen hatte. Sie war totenblaß und mehr niedergeschlagen als wütend.
»Draußen im Feld gehn die besten Leut’ zugrund, und daheim stehlen die Lumpen die Häuser aus!« rief sie und weinte immer wieder, sobald sie in die leeren Schränke schaute.
Der Girgl spannte auch wirklich ein. Er solle den alten Lechner mitnehmen, der habe ein Schießzeug, meinte die Bäuerin, und wenn sie nicht den Dieb erwischten, sollten sie gleich nach Wolfratshausen fahren und bei der Gendarmerie Anzeige erstatten. Mit dem leichtesten Wagen fuhr der Girgl im Galopp durch die zerzauste, dunkle Nacht. In der grauen Frühe kamen er und der alte Lechner zurück. Gefunden hatten sie nichts, aber der Oberwachtmeister von Wolfratshausen
Weitere Kostenlose Bücher