Das Leben meiner Mutter (German Edition)
waren, hatte er das Häusl gegen lebenslängliches Wohnrecht einem Nachbarn verkauft. Er machte aber, seit er beim Heimrath arbeitete, von diesem Recht keinen Gebrauch mehr. Er schlief in der Aufhauser Knechtkammer, und eigentlich hätte seinetwegen der Krieg ewig dauern können, denn bis jetzt war es ihm ganz gut gegangen. Er bangte nur davor, nach der Heimkehr der Knechte vielleicht wieder in sein kahles, kaltes Stübchen zurückzumüssen. Die jetzigen Besitzer seines Häuschens erwarteten das auch kaum noch und begegneten ihm, wenn er zufällig an einem Sonntagnachmittag daherkam, mit so bedenklich unguten Mienen, daß er schnell und gern wieder davonging. Selbst ein verbrieftes Recht bedeutete für einen armen Menschen nichts anderes als Ärger und Enttäuschung. Schon einmal hatte der Girgl um seinen Posten beim Heimrath gezittert. Das war im vorigen Herbst, als die Bäuerin den anderen Vilzler, den Gauzner-Michl, deswegen, weil er etliche Male kleine Kornsäcke heimlich mitgenommen hatte, kurzerhand vom Hofe jagte. Schon längst wußte der Girgl von diesen Diebstählen, doch er verriet nichts, er spielte den Verwunderten, als alles ruchbar wurde und tat auch leicht empört, wenn der Michl es nicht sah und hörte. Als dieser weg mußte und er bleiben durfte, dankte der Girgl – der nie ein allzugroßer Beter gewesen war – dem Herrgott aufrichtig dafür, daß er zum Glück auch Diebe geschaffen hatte. Seither war er vollauf zufrieden, denn was wollte er eigentlich mehr? Er war noch gesund und rüstig, die Arbeit tat ihm nicht weh, er hatte sein tägliches Essen und den üblichen Knechtlohn, er lebte unter gewohnten, verträglichen Menschen, und es ging oft recht lustig her. Mochte die Heimrathin, die – wie sich bei der vielen Arbeit und angespannten Umsicht wohl denken läßt – jetzt immer gereizter wurde, auch manchmal schimpfen, der Girgl dachte gelassen bei sich: »Laß sie greinen und keifen! Der Mensch hat zwei Ohren. Bei einem geht das Geplärr hinein und beim anderen wieder hinaus.« Es war schon deshalb gut mit ihm auszukommen, weil er niemandem etwas nachtrug, stets schnell versöhnt und voll heiterem Witz war. »Bei einem Weibsbild ist’s gut, wenn’s schön und fidel ist«, pflegte er zu sagen. »Ein Mannsbild kann ausschaun, wie’s will. Es muß auch Fidelität haben, aber dazu ein bißl Hirn. Erst wenn der Mensch raunzerisch und muffig wird, geht’s mit ihm aufs Grab zu.« Er grinste dabei, und seine zerfressenen Zahnstumpen wurden sichtbar. Das zusammengedrückte, lederfarbene, vielzerfaltete Gesicht mit der vorspringenden Nase wurde noch furchiger, er zwickte seine kleinen, lebhaften blaugrauen Augen zu und fuhr mit der Hand durch den spitzhaarigen grauen Seehundsbart. Er reckte seine breitschulterige, schon etwas gebückte Gestalt, öffnete die Augen wieder und schaute demjenigen, der gerade vor ihm stand, luchshaft ins Gesicht. Dann schluckte er kurz, daß sein längliches, herausgedrücktes Halszäpfchen auf und nieder ging, streckte seinen kugelrunden Kopf vor und lächelte bedächtig: »Jaja, das hat der alte Girgl gesagt! Das sagt er!« Daraufhin fing er erfrischter zu arbeiten an. Mit der Resl freundete er sich im Lauf der Zeit mehr an als mit jedem anderen Menschen. Er sprach mit ihr nie wie mit einer Dreizehn- oder Vierzehnjährigen. Für ihn war sie ein ausgewachsener, vernünftiger Mensch. Mag sein, daß er ihre stets gleichmäßig heitere Veranlagung schätzte. Wie sie eine Arbeit anfing und bezwang, das bewunderte er im stillen. Am meisten aber rührten und bewegten ihn ihre Gutmütigkeit und ihr gänzlicher Mangel an engstirnigem Bauernstolz, der besonders bei der Genovev sehr ausgeprägt war. Für die Resl waren zeitlebens Menschen, die hart und rechtschaffen arbeiteten, gleich. Blieben sie trotz alledem arm, so tat ihr das weh bis ins Innerste. Waren sie wohlhäbig, so freute sie sich darüber. Es blieb ihr immer unverständlich, daß solche Leute einen Unterschied zwischeneinander machten.
Der Girgl vertraute ihr manches an, was er niemandem sagte. Sie hörte ihm zu und widersprach nie. Man hätte meinen können, sie bliebe gleichgültig, wenn er etwas Trauriges erzählte, etwa von seinen gefallenen Söhnen, die ihn so kujoniert hatten, oder von den Leuten, die jetzt auf seinem Häuschen waren und ihn stets so unfreundlich, verletzend und mißgünstig empfingen, von seinem Alleinsein auf der Welt, von seiner Heimatlosigkeit in diesem Alter. Ein müdes, bedrängtes
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