Das Leben meiner Mutter (German Edition)
rief der Oberwachtmeister, »ich freß’ dich doch nicht! Raus mit der Sprach! Also ist einige Tage vorher oder eine Woche vorher was Auffälliges passiert bei euch? Was plagt dich denn so, Bäuerin?« Jeder, der in der Kuchl stand, richtete seinen Blick auf die Heimrathin. Außer den Amtsleuten bekamen alle gespannte, benommene Mienen. Eine stockende Pause war eingetreten. Der Wachtmeister ließ die Bäuerin nicht aus den Augen und bekam nach und nach ein argwöhnisches Gesicht. Er sah auf die Herumstehenden und fragte: »Kann vielleicht von euch jemand was angeben?« Schweigen.
»Ja, beim Teufel!« brauste der Polizeimann leicht auf, »Heimrathin? Bäuerin?! Was verschweigst du?« Sein runder, kurzgeschorener Kopf war nach vorne gereckt, beide Hände hatte er flach auf die Tischplatte gepreßt, und wiederum rief er fast warnend: »Heimrathin!!«
Es war nichts anderes mehr möglich, sie mußte von den Zigeunern erzählen. Deutlich ließ sich da und dort ein Aufatmen vernehmen, und der Oberwachtmeister, der zunächst wild darüber schimpfte, daß man dies nicht sofort angezeigt habe, sagte während des Notierens überlegen: »Aha! Aha, also da läuft die Spur! Jetzt ist die Sache ja sehr einfach! Die Sippschaft kommt nicht weit! Die haben wir gleich!«
Da alle ziemlich das gleiche aussagten, erschien ihm die ganze Angelegenheit sonnenklar. Als er fertig war, drückte er der Bäuerin freundlich herablassend die Hand und gab ihr die tröstlichsten Zusicherungen. Die stellte sich wohl beruhigt, sie war es aber keinesfalls. Als Oberwachtmeister und Gendarmen weg waren, machte sie sich, ohne die Herumstehenden anzusehen, an die Arbeit und rief bekümmert: »Die machen auch nichts besser! Weiß Gott, was noch alles rauskommt dabei.« Wortlos und betreten verließen alle die Kuchl.
Eine gerichtsmedizinische Kommission sezierte die Leiche Girgls, die im Aufkirchener Schauhaus lag. Tage- und wochenlang redeten die Leute der ganzen Pfarrei von nichts anderem als von der gräßlichen Untat. Alle möglichen Mutmaßungen wurden laut. Die Gendarmeriestationen in weitem Umkreis wurden von der Wolfratshausener Polizei verständigt. Es erfolgten auch zahlreiche Verhaftungen herumziehender Zigeuner. Jene, die in Aufhausen gewesen waren, konnten nicht ermittelt werden, das heißt, die Heimrathin, die einmal in Wolfratshausen, einmal in Starnberg und einmal sogar in München solchen Verhafteten gegenübergestellt wurde, konnte sich nicht erinnern an ihre Gesichter. Ihre Geschnüre und Mieder bekamen sie nicht mehr. Sie war froh darüber, denn sie hätte sie nur gezwungenermaßen angenommen, aber nie wieder heimgebracht. An einem Zigeunerdiebsgut klebte der Fluch.
Nach all diesem erfolglosen Nachforschen begann die Wolfratshausener Polizei eine andere verdächtige Spur zu verfolgen, auf die sie durch das Gerede der Leute aufmerksam geworden war. Sie tauchte wieder im Vilz auf, nahm fast alle Torfstecher ins Verhör und kam schließlich auch in die baufällige Hütte vom Gauzner-Michl. Der aber lag todkrank im schmutzigen Bett seiner armseligen, frostfeuchten Stube und erkannte die Gendarmen kaum. Offenbar hielt er sie für Leichenmänner oder Ministranten, denn er phantasierte in einem fort mit heiserer Stimme: »Jaja! – Ja, ja, ich hab’s ja gleich! Noch ist’s nicht ganz aus mit mir … Ich bitt’ euch gar schön – der ho-ho-hochwürdige He–Herr Pfarrer so–soll kommen! … Beichten will ich, und meimeine Sterbsakramente brauch’ ich noch!« Ein Gendarm tat ihm den Gefallen und verständigte den Aufkirchener Pfarrer. Der kam und tat seine ernste Pflicht. Mitten im Wort schnappte der Michl nach Luft, dann sank sein Kopf haltlos auf die Seite. Hastig versah ihn der Geistliche mit der Letzten Ölung, ging in ein Nachbarhaus und sagte, sie sollten den Verstorbenen für das Begräbnis herrichten. Der Schnee wehte dicht und unbarmherzig über das öde Geviert des Torfstichs, mannshoch lag er im Wald, daß kaum durchzukommen war. Durchfroren und ziemlich erschöpft erreichte der Pfarrer Aufhausen und trat in die Heimrathkuchl. Die Bäuerin wollte ihm eine Schüssel Kornkaffee wärmen, doch er lehnte ab. Es wurde schon dunkel, und er wollte bald daheim sein.
»Heimrathin«, sagte er, nachdem er sich halbwegs erwärmt hatte, »der Michl hat mir eine letztwillige Mitteilung gemacht. Sie betrifft dich.« Ernst und erstaunt sah die Bäuerin ihn an, und er berichtete, daß ihm der Verstorbene während der Beichte ausdrücklich
Weitere Kostenlose Bücher