Das Leben meiner Mutter (German Edition)
nicht nur beim Heimrath so. Überall, wo die Jungen heranwuchsen und die Alten mit rechthaberischer Hartnäckigkeit an den Überlieferungen festhielten, keimten verschwiegene oder offene Feindschaften auf. Und die Zeit, die hereingebrochen war, tat ein Erkleckliches dazu, ja, sie war in den meisten Fällen die treibende Ursache all dieser Auseinandersetzungen. Noch mehr: sie formte und stärkte die nachstrebenden Jungen und zermürbte die Alten, die alles an ihr unhaltbar und teuflisch fanden.
Oft und oft, wenn die Bauern an den Sonntagen in der Finkschen Wirtsstube beisammensaßen, klagten sie mürrisch: »Es ist nichts mehr heutzutag … Glauben und Ehrlichkeit sind ausgestorben! Bloß Schwindel und Schlechtigkeit gibt’s noch.« Und dann kamen sie auf diesen »höllischen« Bismarck zu sprechen, der sogar die katholische Kirche abschaffen wolle und dem Heiligen Vater nicht mehr folge.
»Da hat man’s jetzt, weil man mit ihm Krieg geführt hat!« schimpfte der Jani-Hans, der jetzt wieder daheim bei seinem Bruder war, »die beste Geistlichkeit sperrt er ins Zuchthaus oder treibt sie aus’m Land, und die Lumpen setzt er ein, der lutherische Saukopf, der!« Mochte ihn auch der vorsichtige Fink warnen, er hielt nicht zurück mit seiner Meinung, und alle Bauern verteidigten ihn. Was hatte denn dieser freche, antichristliche Kanzler, seitdem man ihm zur Macht verholfen, alles an niederträchtiger Schlechtigkeit begangen, zählte der Hans auf: die heiligen Jesuiten vertrieben, die katholischen Orden, Klöster und Kongregationen aufgehoben, nur die Pfarrer und Bischöfe, die nach seinem Kopf und Sinn wären, wolle er einsetzen und anerkennen, und heiraten könne jetzt jeder Lump ohne kirchliche Genehmigung. Ob er was habe und was er sei, danach werde nicht mehr gefragt, die Hauptsache sei seine Unterschrift beim Standesamt.
Unbestreitbar, der Kanzler hatte durch seine gesetzgeberischen Maßnahmen einen giftigen Kampf mit dem Papst und seiner Kirche begonnen, dessen Wirkung auf das gläubige Volk äußerst heftig und unabsehbar war. In allen Gegenden Deutschlands rebellierten die Katholiken offen gegen ihn, wenngleich mit Rücksicht auf die drohend unzufriedenen Massen in den verschiedenen Bundesländern des Reiches die Kanzler-Erlasse keinesfalls hinreichend durchgeführt wurden. Zwar waren allenthalben die ehemaligen Feinde des päpstlichen Unfehlbarkeits-Dogmas als »Altkatholiken« staatlicherseits anerkannt. Noch immer lehrte Ignaz von Döllinger unangefochten in München, und viele gleichgesinnte Theologen wirkten als Pfarrer, Professoren und Bischöfe im ganzen Reich – aber das breite Volk wußte kaum etwas von ihnen und war streng papsttreu geblieben.
Nachdem der Jani-Hans einmal ungemein ausfällig auf König Ludwig geschimpft hatte, wurde er von einem anwesenden Gendarm abgeführt. Es kam zu einer wüsten Schlägerei, so daß schließlich etliche Wachleute des königlichen Schlosses eingreifen mußten. Der Hans konnte von Glück sagen, daß seine gefährlichen Worte nicht höheren Orts bekannt wurden. Das Amtsgericht in Starnberg verurteilte ihn zu fünf Monaten Gefängnis, aber die Bauern sahen in ihm einen wahrhaften Märtyrer der guten katholischen Sache. Er litt keinen Mangel in seiner Zelle.
War denn das, was er gesagt hatte, etwa gelogen? – Nein!
König Ludwig schien sich in allem dem gewalttätigen Kanzler zu fügen. Auf einmal mußten viel mehr junge Leute zum Militär, plötzlich durften die Pfarrer nicht mehr so ausgiebigen Religionsunterricht geben in den Schulen, und jetzt kam auch noch das neue Geld auf. Statt des guten, gewohnten Guldens, der nach und nach verschwand, kursierte jetzt die Silber- und Goldmark, und kein Bauer kannte sich mehr aus beim Rechnen. Sie versteckten ihre Ersparnisse noch ängstlicher und wollten anfänglich überhaupt keine Mark annehmen. Erst nach und nach, als sie sahen, daß sie wirklich für dieses windige Geld in Starnberg und Wolfratshausen ohne Widerspruch alles zu kaufen bekamen, was sie verlangten, gewöhnten sie sich daran. Freilich untereinander rechneten sie wie seit eh und je nach Gulden und Kreuzer.
In dieser unduldsamen Zeit erging es dem Stellmacher-Maxl von Berg mit seinen Lobworten auf Bismarck und seinem oftmaligen Absingen des Liedes ›Bei Sedan …‹ nicht gut. Zweimal prügelten die aufgebrachten Bauern ihn und seine Zechgenossen aus der Aufkirchener Wirtsstube. Einmal trug er ein Loch im Hinterkopf davon und hatte so ein verquollenes
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