Das Leben meiner Mutter (German Edition)
und schien den Glauben an alle Menschen verloren zu haben. Mag sein, daß sie auch manchmal, wenn sie ihre großgewachsenen, heiratsfähigen Töchter betrachtete, von einer schaurigen, unergründlichen Ahnung überfallen wurde, als seien sie ihr alle fremd geworden. Jeder Friede und alle Eintracht waren – ohne daß sie sagen konnte warum – aus ihrem Hof gewichen. Eine böse Mißgunst und eisige Feindseligkeit aller gegen alle machte sich unaufhaltsam breit. Am meisten litt darunter die Resl. Zweiundzwanzig Jahre war sie jetzt alt, vollsaftig und gesund, arglos und verträglich wie seit eh und je. Offenbar hatte sie sich noch nie die geringsten Gedanken über die Zukunft gemacht. Nie war ihr in den Sinn gekommen, wie denn das einmal sein würde, wenn die Mutter verstorben sei, die Genovev den Hof bekomme und alles auseinanderginge. Sie hatte zwei kräftige Arme, die viel bezwangen. Selbst wenn sie nach harten Arbeitswochen auf dem Veteranenball keinen Tanz ausließ, um Mitternacht heimkam und nur etliche Stunden schlief – ihre Beine fühlten keine Müdigkeit. Sie schwang die Sense, als sei sie mit ihr verwachsen. Sie drosch mit dem klappernden Flegel von der Frühe bis in die Dunkelheit, sie lud den ganzen Tag Dünger auf die leeren Wagen und hockte noch genau so belebt am Spinnrad bis tief in die Nacht hinein. Jeder Mensch schien ihr recht, der sich plagte und dem anderen nichts in den Weg legte. Gewiß wußte sie mit der Genovev und der Kathrein nie viel anzufangen, aber sie waren schließlich ihre Schwestern, und einer konnte dem andern nicht gleichen. Erst jetzt, nachdem die erstere sich so weit mit dem Peter eingelassen hatte, erschien sie der Resl nicht mehr so wie früher. Sie fragte nicht, wie und warum das mit der Genovev geschehen konnte. Es keimte nur eine fast ungewollte und unerklärliche Ablehnung alles dessen in ihr auf, und diese Ablehnung glich mehr einem Ekel, einer furchtsamen Scheu vor etwas ungewohnt Häßlichem, als einer Feindschaft. Empfindlich war die Resl nicht, aber es fiel ihr doch auf, daß sie und ihre Schwestern jetzt überall mit anderen Augen angesehen wurden. Der Blick der Weiber und Jungfrauen war abweisend, derjenige mancher Männer begehrlich und dreist. Das ärgerte sie und tat ihr auch ein wenig weh. Freilich, allzulange hielt eine solche Verdrossenheit bei ihr nie an. Ihre gesunde, heitere Derbheit hatte zuweilen etwas Bezwingendes, ja Verblüffendes.
»Du schaust dir überhaupt keinen an. Dich kann jeder kriegen, der dich nimmt!« warf der hämische Müller-Älteste von Berg einmal hin, als die Resl dreimal hintereinander vom Bäcker-Maxl zum Tanz geholt wurde. Sie lachte unversteckt und antwortete: »Ihr hockt ja da wie bei einer Leich’! Und überhaupt – sterben müssen wir alle, die Hauptsach’ ist, daß wir lustig gewesen sind. Zuletzt, wenn wir ein Haufen Dreck sind, kann keiner mehr tanzen!«
Die Müllerischen sagten nichts mehr. Sie schauten alle nur grämlich geradeaus. Nach einer Weile, als die Resl wieder tanzte, brümmelte der alte Müller mißgünstig: »Da hört man’s! So red’t man beim Heimrath vom Sterben. Auf’m Tanzboden treibt sie Spott damit … und so was gehört zu unserer Verwandtschaft.«
Ebbe und Flut
Eine von Bismarck befürwortete, weitgreifende Gesetzesvorlage für das ganze Reichsgebiet war in Kraft getreten, die in allen Landstrichen große Veränderungen nach sich zog: die sogenannte Gewerbefreiheit.
Weiß Gott, die Zeit war bewegt genug, und viele Menschen kamen nicht mehr mit! Der unbegreiflich rechthaberische Kanzler in Berlin aber schien sie nur noch mehr zu verwirren, und alle Menschen, die ihrer friedlichen täglichen Arbeit nachgingen, bekamen das immer mehr zu fühlen. Sie kannten sich nicht aus und fanden das meiste, was dieser wilde Berliner Mann tat, gewalttätig und planlos. Wenn sie nachzudenken versuchten, kam es ihnen vor, als sei nur durch ihn aller Unfriede auf die Welt gekommen: zuerst sein jahrelanger, giftiger Hader mit den Katholiken, der erst jetzt langsam abflaute und ihm nichts eingetragen hatte als eine zahlreiche, hartnäckige, verschwiegene Feindschaft in allen Bundesländern; dann die überall mit Mißtrauen aufgenommene Vereinheitlichung des Geldwesens, womit er insbesondere die Bauern kopfscheu und unruhig gemacht hatte. Ihre anfänglich ängstlich zurückgehaltenen Gulden und Kreuzer waren ihnen, nachdem sie sich notgedrungen dazu entschließen mußten, nicht immer zum gleichen Kurs
Weitere Kostenlose Bücher