Das Leben meiner Mutter (German Edition)
schaffen, nicht aber, etwas davon zu spüren. Da die Arbeiter langsam selbstbewußter wurden und sich zusammenschlossen, da sie Berufsgewerkschaften bildeten und schließlich als »Sozialdemokratische Partei« im Reichstag billigerweise ihre Rechte forderten, erschienen sie dem Kanzler und seinem Anhang als gefährliche Staatsfeinde. Um möglichst niedrige Löhne zu erzwingen, ging der Kanzler dazu über, die Einwanderung polnischer und böhmischer Arbeiter zu erlauben, die für jeden Lohn und aus Not unter allen Bedingungen arbeiteten. In unzähligen Scharen kamen diese Elendsgestalten ins Land. Nur eins trieb sie an: nicht mehr ganz zu verhungern. Zum zweiten wurden alle Polizeistationen des Reiches vom Kanzler beauftragt, die Arbeitervereine, die Gewerkschaften und die Partei streng zu überwachen und alle nur erdenklichen Schikanen anzuwenden, um deren Mitglieder von einer Teilnahme abzuschrecken. Auch Polizeispitzel wurden in diese Organisationen geschickt, die irgendwelche staatsgefährlichen, gesetzwidrigen Pläne aushecken sollten, wodurch die Arbeiter belastet werden könnten. Die aber blieben besonnen und fochten unangreifbar für ihr Recht. Und weil sie mutig waren, wuchs ihr Anhang. Mit dem Ingrimm eines Menschen, der seinen einsichtslosen Starrsinn nicht aufgeben will und auf einmal doch fühlt, daß seine Widersacher mit Erfolg ihr Recht zu verteidigen wissen, steigerte der Kanzler die Unterdrückung der Sozialdemokraten derart, daß – wie er annahm – die erhitzten Massen sich zu Unbesonnenheiten hinreißen lassen mußten. Vergeblich. Noch schlimmer für Bismarck: er legte dem Reichstag den Entwurf eines eigenen Gesetzes gegen die um sich greifende sozialdemokratische Agitation vor. Doch weite Kreise der bürgerlich-liberalen Partei stimmten dagegen. Das Gesetz kam zu Fall. Da ereigneten sich – um Bismarcks eigenen Ausdruck zu gebrauchen – »wie gewünscht« die beiden Attentate auf den Kaiser, und wenn auch nicht der geringste Beweis dafür erbracht werden konnte, daß die Täter Hödel und Nobiling Sozialdemokraten gewesen waren, rücksichtslos ließ der Kanzler diese Behauptung überall verbreiten. Und wer zuerst schreit, auf den hört man. Das zweite, viel strengere »Sozialistengesetz« wurde von der Reichstagsmehrheit angenommen, und eine beispiellose Verfolgung aller freiheitlichen Arbeiter begann. Ihre Partei wurde verboten, alle ihre Organisationen aufgelöst und deren Vermögen beschlagnahmt. Die Ernährer ungezählter Arbeiterfamilien wurden verhaftet, polizeilich abgestraft, gemaßregelt und aus dem Verdienst gejagt. Nicht wenige ihrer Genossen flohen außer Landes. Die Zurückgebliebenen, weniger Gefährdeten, Unauffälligen zogen in abgelegene Gegenden und fingen mit dem wenigen, das ihnen verblieben war, ein neues, hartes, verborgenes Leben an.
So war es in Preußen und in allen Bundesländern. Das bayrische Ministerium übernahm die Ausnahmegesetze, und König Ludwig, der schon lange an Verfolgungswahn litt, befürwortete die strengste Durchführung. Wie ihr König, so hatten auch die Landleute nichts dagegen einzuwenden, daß gegen das »lichtscheue Stadtgesindel« mit aller Schärfe vorgegangen wurde. Allerdings merkten sie kaum etwas davon. Aber sie verargten dem Kanzler die eben verkündete Gewerbefreiheit nicht wenig. Ihrer Meinung nach half er ja damit eben den Leuten, die ihm so gefährlich schienen, erst recht wieder auf die Beine.
Nun nämlich brauchte sich auf einmal niemand mehr daran zu halten, ob auf seinem Haus eine »Gerechtsame« lag, die ihn zur Begründung eines entsprechenden Geschäftes ermächtigte. Dieses patriarchalische, schwerfällige Recht, das aufstrebende Handwerker sehr behinderte und die notwendige Freizügigkeit unterband, wurde durch die neue Gewerbeordnung gewissermaßen von der toten Sache losgelöst und auf den Menschen übertragen. Jetzt begann selbst in den unberührtesten Landstrichen eine sichtliche Umschichtung. Aus den Städten und aus fremden Gauen kamen unternehmungslustige Leute in die Dörfer, machten sich seßhaft und versuchten mit mehr oder weniger Glück, sich eine dauernde Existenz zu schaffen. Und nicht nur kleine Handwerker, auch vereinzelte Arbeiterfamilien tauchten da und dort verschüchtert auf. Ohne viel Umstände konnte nun jeder eine Krämerei eröffnen. Sobald die Gemeinde es befürwortete, erhielt derjenige, der eine Gastwirtschaft betreiben wollte, die Schank-Konzession, und Handwerker, welche ihre beruflichen
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