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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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eingewechselt worden. Einmal erhielten sie für einen Silbergulden eine Mark und zweiundsiebzig Pfennige, und der Kreuzer galt zwei und drei Fünftel Pfennige, das andere Mal fiel sein Wert wieder auf eine Mark und fünfundsechzig, ja, während des drohenden Kriegs mit Frankreich im Frühjahr anno 75 sank er sogar noch weit tiefer. Endlich verschwand der Gulden, und es trat eine gewisse Beruhigung ein: aber auf einmal mußte in allen Gegenden, wo man früher so etwas überhaupt nie gekannt hatte, zum Reichstag gewählt werden, und die Bauern, denen der Mesner im Auftrage des Pfarrers die abzugebenden Stimmzettel beim Verlassen der Kirche gab, fragten sich vergeblich, zu was denn nun das eigentlich gut sein sollte. Sie hatten bis jetzt geruhig gelebt und waren ohne all diese »neumodischen Sachen« ausgekommen. Sie konnten sich unter »Reichstag« nichts Sinnvolles und Nützliches vorstellen, außerdem war ihnen das »Preußische« zuwider, und was in den Städten geschah, ließ sie gleichgültig. Dann in der Erntezeit einmal, im Mai und im Juni, drang rasch nacheinander die gefährliche Kunde in ihre Gaue, daß ruchlose Verbrecher auf den alten Kaiser Wilhelm geschossen und ihn das zweite Mal schwer verwundet hätten. Der Kaiser hatte keinen schlechten Ruf bei den Landleuten. Sie achteten ihn, weil er alt war und einen würdigen grauen Backenbart hatte, und sie schätzten ihn, weil er sich so wenig bemerkbar machte. Auch in der Aufkirchener Pfarrei verdammte man die Attentäter. Der Jani-Hans aber, der seit seiner Festnahme und Abstrafung vorsichtiger geworden war, raunte doch einigen Bauern zu: »Die Kugeln haben natürlicherweis’ nicht dem alten Mann gegolten, sie sind für seinen lutherischen Bismarck gewesen, aber der versteckt sich schon so, daß ihn keiner erwischt. Eine Schand’ und eine Sünd’ ist’s, auf den guten, alten Kaiser zu schießen, aber der Bismarck macht ja alles rebellisch. Ich will wetten, sie haben bloß auf den Kaiser geschossen, weil er dem Höllenlump so nachgibt und alles macht, was der will.« Der Hans tat gut daran, schnell umherzusehen, ob es auch kein Unberufener gehört habe, denn jetzt galt jede harmlose Kleinigkeit als Majestätsbeleidigung und wurde drakonisch bestraft. Irgendwo im Preußischen droben zum Beispiel war eine Frau, die gleich nach dem Attentat gesagt hatte: »Nun, der Kaiser ist wenigstens nicht arm, er kann sich pflegen lassen«, zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden, und allerorts gab es derartig sinnlose Urteile in erschreckender Anzahl. Von einem verwahrlosten Spenglergesellen Hödel und einem irrsinnigen Studenten Nobiling, den Attentätern, erzählten die Leute wie von wilden, seltsamen Räuberhäuptlingen. Hödel war hingerichtet worden, und Nobiling hatte sich unmittelbar nach seiner Tat zwei Kugeln in den Kopf gejagt, so daß er kurz nach seiner Verhaftung im Gefängnis-Spital verstarb. Zum erstenmal hörten die Bauern etwas von jenem lichtscheuen Gesindel in den Städten, von den ganz und gar gottlosen Lumpen und Kaisermördern, die Sozialdemokraten oder kurzweg »Sozis« genannt wurden. Auf dem Jahrmarkt in Aufkirchen tauchte ein Moritaten-Sängerpaar auf, ein kleiner, krüppelhafter eisgrauer Bergmann und sein verhutzeltes, halbblindes Weib. Sie hängten an die Kirchhofsmauer ein großes Plakat, worauf in vielen blutrünstigen Bildern das Leben der beiden Attentäter vom Anfang bis zum bitteren Ende gezeigt wurde. Unter jedem Bild stand ein einfältiger Vers. Der Bergmann deutete mit einem langen, dünnen Stock darauf, und sein Weib zupfte an einer verstimmten Gitarre. Mit kläglichen, rostigen Stimmen sangen die zwei Alten die gereimte Schauermär. Die dicht um sie stehenden Leute hörten mit neugierigem Gruseln zu und warfen hin und wieder einen Kupferpfennig in die auf dem Boden liegende Bergmannskappe.
    Was in Wirklichkeit geschehen war und welche Folgen die Attentate hatten, das blieb den Landleuten schon deswegen unbekannt, weil nichts davon in ihr Leben eingriff. Viel besessener und bösartiger als jemals die Katholiken, hatte der Kanzler seit Anbeginn die zahlenmäßig rasch zunehmende Arbeiterschaft bekämpft und geknebelt. Ihm lag vor allem daran, daß sich die junge Industrie im ganzen Reich schnell und ungehemmt entwickeln und mit den Industrien anderer Länder konkurrieren konnte. Zu diesem Zweck mußten die Arbeiter auf gerechte Löhne und Besserstellung im Staat verzichten. Ihr Recht bestand nur darin, den Reichtum zu

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