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Das Leben nach dem Happy End

Das Leben nach dem Happy End

Titel: Das Leben nach dem Happy End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pia Juul
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Scheibe getönt. In den gelben Himmel ragten so viele Mohnblumen, dass es sich bei dem, was ich sah, möglicherweise um ein Mohnfeld handelte. Als ich ein Kind war, gab es auch viele Mohnblumen, auf Äckern und Baustellen, doch dann wuchs jahrelang nirgendwo Mohn, und jetzt war er wieder da. Der Zug hielt, unter den Passagieren entstand Unruhe, sie warfen sich Blicke zu, zogen entnervt die Augenbrauen hoch und seufzten. »Haben wir Verspätung?«, fragte ich meinen Nebenmann. »Sie haben gerade durchgesagt, dass wir gleich weiterfahren«, sagte er. Ich sah wieder auf mein Handy hinab. Wählte die Nummer der Auskunft, kein Empfang. Eine plötzliche Hitze wallte in mir hoch, kein Körperteil blieb davon verschont, warum das denn jetzt. Ich rutschte auf meinem Platz hin und her. »Möchten Sie raus?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf, japste nach Luft, schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken. »Als ich im Winter das letzte Mal mit der Bahn gefahren bin, ist mir das auch schon passiert«, sagte er. »Wir standen zwei Stunden lang, schrecklich. Die Fenster lassen sich nicht öffnen, ja nicht einmal die Türen, und die Luft wird immer schlechter.« Ließen sich die Türen nicht öffnen? Eine neue Hitzewallung erfasste meinen Körper. Ich wusste mit einem Mal nicht mehr, wie man atmete, wie konnte man das vergessen? Ich wollte doch gern raus. Ich dachte, ich hätte es laut gesagt, aber er hatte es nicht gehört. Wer hatte Hallands Handy? Ich konnte die SMS beantworten, als gäbe es ihn noch, so tun, als ob. Dann krächzte der Lautsprecher, jetzt hielten wir auf unbestimmte Zeit hier, sie konnten den Fehler nicht finden. Der Nebenmann sah auf die Uhr. »Jetzt fährt mein Bus davon«, sagte er. Ich japste nach Luft und umklammerte das Handy. »Und ich muss telefonieren«, flüsterte ich mit trockenem Mund. »Im Winter hielten wir einfach nur und bekamen keinerlei Information, und dann ging das Licht aus, am Ende war es stockfinster, und wir mussten auf den Schienen bis nach Vejle laufen.«
    »Also ließen sich die Türen doch öffnen«, sagte ich und bekam bei diesem Gedanken besser Luft, ja, ein Gespräch in Gang halten.
    »Ja, aber das machen sie natürlich nur in Notfällen, es ist doch lebensgefährlich, die Leute auf die Schienen zu lassen.«
    Ich lehnte meine Wange an das Fenster und genoss die kurze Kühlung, presste mein Gesicht gegen die Scheibe und drückte meine Lippen daran platt, konnte man mit den Lippen schmecken, es schmeckte nach Metall. Weich, weich, dunkel.
    Weich, dunkel.
    Weich dunkel? Ich darf es nicht appetitlich klingen lassen, ich hatte doch Angst, wirkliche Angst. Ich habe von Geburt an gelernt, mit meinem Körper zu leben, so, wie es meiner Vermutung nach alle mit mehr oder weniger großem Erfolg taten, jedenfalls lernt man ihn kennen, möglicherweise auch mit einem gewissen, vorübergehenden Wohlbehagen. Ich hatte Höhen und Tiefen erlebt. Doch dies war neu. Vielleicht hatte ich nie zuvor Angst verspürt. Doch. Als Halland dort lag. Natürlich hatte ich Angst gehabt, aber nicht daran gedacht, dass ich Angst hatte, hatte nichts gedacht, weil ich nicht wusste, was passierte. Und hier im Zug sprach mein Körper plötzlich, ohne mich einzubeziehen. Ein paranoides Kitzeln zwischen den Schulterblättern auf einem Badesteg – war nichts gegen dies. Und dennoch war auch dies nichts. Ich verlor das Bewusstsein. Nein. Ich glaube, es nennt sich Blackout. Vielleicht eine Sekunde lang, vielleicht zehn, vielleicht viel länger. Ich hing über meinem Nebenmann, er schüttelte mich sanft, sein struppiger Schnurrbart hing dicht über meinem Gesicht. »Ich will raus«, sagte ich.
    »Das geht gerade nicht«, sagte er. »Ich will aber«, sagte ich. »Und jetzt muss ich telefonieren, es ist dringend.« »Sie leiden unter Klaustrophobie«, sagte er. »Ich kenne das nur zu gut, ich bekomme auch nur schwer Luft.«
    »Ich will raus!« Ich setzte mich auf und bewegte vorsichtig den Kopf, ich versuchte aufzustehen, aber mein Sitznachbar stand nicht auf, mein Bein machte einen großen Schritt über seins, doch er hielt mich fest. »Lassen Sie mich los«, sagte ich. Doch, ich sah sehr wohl, dass alle mich anstarrten, ich wäre nur zu gerne zu meinem Platz zurückgekehrt und hätte geschwiegen und mir auf völlig normale Weise Sorgen über meine Zugreise gemacht, aber nun war es zu spät.
    Dann setzte sich der Zug mit einem Ruck in Bewegung. Mein Kinn schlug auf seinem Kopf auf, er roch nach Ei aus dem Mund,

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