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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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aufgeworfenen Linoleumfußböden, Fensterzargen, die so alt und verzogen waren, dass man sie im Winter mit Zeitungspapier abdichten musste, das Badezimmer (eins für alle), dessen Kloschüssel ein rostroter Schmutzrand zierte und von dessen ausgebleichtem Duschvorhang man nicht wusste, ob er rosa oder rot gewesen war – , musste sie an die Familie in ihrem Heimatort denken, die einzige wirklich »arme« Familie, die sie kannte. Ihr Garten war mit rostigen Autos vollgestellt, die Kinder kamen schmutzig zur Schule. Und Pam erschrak. Wer war dieser Burgess-Junge, in den sie sich verliebt hatte? War er wie diese Leute? Auf dem Campus unterschied er sich nicht groß von den anderen, er trug jeden Tag dieselben Bluejeans – aber das taten damals viele Jungen – , sein Zimmer im Wohnheim war unaufgeräumt, seine Hälfte dürftig eingerichtet – aber so sahen die Zimmer vieler Studenten aus. Und Bob war präsenter als andere Jungen, lockerer; sie hatte nicht damit gerechnet, dass er und seine abweisende Schwester aus so einem Haus stammen könnten.
    Ihr Schrecken war nicht von Dauer. Bob brachte überallhin das mit, was ihn zu Bob machte, und das Haus wurde für sie rasch zu einem Ort der Geborgenheit. Nachts hörte sie seine unaufgeregte Stimme, wenn er leise mit seiner Mutter sprach, weil sie oft lange aufblieben, Mutter und Sohn, um sich zu unterhalten. Häufig fiel dabei der Name »Jim«, als wäre er in dem Haus immer gegenwärtig, wie er auch auf dem Orono Campus noch gegenwärtig war.
    »Ah, der große Jim«, hatte Pam zu ihm sagen wollen, als sie ihn endlich kennenlernte. An einem Freitagnachmittag im November saß er am Küchentisch, draußen war es schon dunkel, und er erschien ihr zu groß für das Haus, nach hinten gelehnt auf seinem Stuhl, die Arme verschränkt. Sie sagte nur: »Hallo.« Er stand auf, gab ihr die Hand und versetzte Bob mit der freien Hand einen Stoß vor die Brust. »Na, Goofy, wie geht’s?«, sagte er, und Bob sagte: »Harvard-Mann, wieder zu Hause!«
    Pams erstes Gefühl war Erleichterung darüber, dass sie den älteren Bruder ihres Freunds nicht anziehend fand, denn ganz eindeutig ging es vielen Mädchen anders. Für ihren Geschmack war er auf zu konventionelle Weise attraktiv, dunkles Haar, perfekte Backenknochen; außerdem hatte er etwas Hartes. Pam sah es, und es machte ihr Angst. Keiner außer ihr schien es zu sehen. Wenn Jim sich über Bob lustig machte (so böse wie Barbara über Susan), lachte Bob und nahm es hin. »Als wir klein waren«, erzählte Jim ihr an diesem ersten Abend, »ist mir der Typ da« – er nickte zu Bob hinüber – »tierisch auf den Keks gegangen. Tierisch. Shit, du gehst mir heut noch auf den Keks.«
    Bob zuckte fröhlich die Schultern.
    »Wieso, was hat er gemacht?«
    »Er wollte immer das essen, was ich hatte. Tomatensuppe, sagte er, wenn Mum fragte, was er zum Mittagessen will. Aber wenn er sah, dass ich Gemüsesuppe aß, rief er, nein, die will ich auch. Egal was ich angezogen habe, er wollte das Gleiche anziehen. Egal wo ich hingegangen bin, er wollte mit.«
    »Nein. Wie entsetzlich.« Aber Pams Sarkasmus war bestenfalls ein Kieselstein, der gegen eine Windschutzscheibe prallt; Jim war kugelfest.
    Während seiner Jahre in Harvard kam Jim oft nach Hause, um seine Mutter zu besuchen. Alle drei Kinder, stellte Pam fest, hingen an der Mutter. Susan und Bob hatten Jobs in der Mensa, aber sie tauschten ihre Schichten, nutzten jede Mitfahrgelegenheit nach Shirley Falls. Das rührte Pam, und es machte ihr ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre eigenen Eltern so selten besuchte, aber sooft Bob und auch Susan beschlossen, nach Hause zu fahren, fuhr sie mit. Susan hatte Steve noch nicht kennengelernt, und Jim kannte Helen noch nicht, und im Rückblick kam es Pam fast vor, als wäre sie damals nicht nur Bobs Freundin, sondern irgendwie auch seine Schwester gewesen, denn es waren die Jahre, in denen sie alle zu ihrer Familie wurden. Susan verlor etwas von ihrer Kratzbürstigkeit. Sie spielten oft Scrabble am Küchentisch, oder sie hockten in dem kleinen Wohnzimmer zusammen und redeten. Manchmal gingen sie zu viert auf die Bowlingbahn, und hinterher berichteten sie Barbara, dass Bob um ein Haar gegen Jim gewonnen hätte. »Hat er aber nicht«, sagte Jim. »Hat er nie, wird er nie.« An einem klirrend kalten Samstag bügelten Pam und Susan auf dem Bügelbrett im Wintergarten vorsichtig ihre langen Haare, und Barbara kam laut schreiend angelaufen – ob sie denn

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