Das Leben Zimmer 18 und du
es mir so vor, als hätte ich nur darauf gewartet, sie hier herauszulassen. Hier, an diesem Ort. In diesem Moment.
Ich weine. Lauter. Tiefer. Und doch haben die Tränen keinen befreienden Effekt wie sonst. Im Gegenteil. Je länger ich liege, je länger ich den vertrauten Geruch des Schlafzimmers einatme, desto schwerer wird mir ums Herz. Was um Himmelswillen tue ich hier? Und was habe ich mir von diesem kurzen Zwischenstopp in den eigenen vier Wänden erhofft? Hatte ich wirklich die Hoffnung, dass ich mein befremdliches Gefühl der Heimat gegenüber durch einen einzigen Besuch auslöschen kann? Und was ist mit dem Gespräch zwischen Bastian und mir, das erst wenige Stunden her ist? Warum spukt es mir noch immer im Kopf herum, zu einem Zeitpunkt, an dem ich mich eigentlich über meine zwischenzeitliche Rückkehr nach Hause freuen müsste?
Instinktiv springe ich auf und laufe zur Treppe.
„Lass uns wieder losfahren“, rufe ich David zu, der im Wohnzimmer fernschaut.
„Jetzt schon?“, höre ich ihn antworten. Aber da bin ich schon so gut wie im Auto.
*
„Hallo, liebe Teilnehmer, ich freue mich, Sie auch heute wieder zu unserer Depressionsrunde begrüßen zu dürfen.“ Frau Geiss trägt wie immer ihr optimistischstes Lächeln auf den Lippen, während sie das sagt. „Heute habe ich mir ein besonderes Thema für Sie ausgesucht.“
Ich bemühe mich, meinen Blick gezielt auf eine andere Ecke des Raums zu richten, um nicht zu auffällig zu sein. Doch selbst im Augenwinkel sehe ich ihn.
Leicht vorgebeugt, die Hände über den Knien ineinander verschränkt, sitzt er mir schräg gegenüber.
„Vielleicht ist Ihnen schon die Überschrift auf der Tafel hinter mir schon aufgefallen?“
Die Augen der Teilnehmer wandern zu den Buchstaben auf dem Whiteboard.
„Stärken und Schwächen“, fährt sie fort. „Was genau könnte das für unsere heutige Runde bedeuten?“
„Dass wir lernen, dass Schwächen auch Stärken sein können?“, antworte ich, während sich der Rest der Runde wie gewohnt in Schweigen hüllt.
Nur Bastian überlegt, was er zu dem Thema sagen kann.
Ich unterdrücke ein Lächeln in seine Richtung. Ein unbewusster Instinkt, um meine Gefühle zu schützen?
„Ja genau“, antwortet Frau Geiss. „Und dass wir uns auch damit beschäftigen, dass manche Stärken gleichzeitig Schwächen sein können.“
„Da bin ich gespannt“, wirft Teresa in die Runde.
Augenblicklich fällt mir wieder das Abendessen in der Gruppe B und mein erster Ausflug zu den „Gesünderen“ ein. Teresa, das Sprachrohr der Gruppe und die Papierschnipsel auf dem Tablett.
Ich schaue zu Bastian herüber, der auf die Tafel starrt.
„Um dieses Thema entsprechend zu würdigen, habe ich etwas ganz Besonderes mit Ihnen vor“, sagt Frau Geiss. „Dazu müssen wir aber erst einmal den Raum verlassen und in den Aufenthaltsraum gehen.“
Fragend schauen wir sie an.
„Dort finden wir einen Tisch und ausreichend Papier“, ergänzt sie und steht auf.
Wir stehen ebenfalls auf und folgen ihr wie orientierungslose Schüler durch die geöffnete Tür auf den Flur.
Ich weiß nicht, ob einer von uns beiden dem Zufall auf die Sprünge geholfen hat, aber nur wenige Augenblicke später finde ich mich neben Bastian wieder.
Grinsend gehen wir als Letzte der Gruppe nebeneinander her in Richtung Aufenthaltsraum.
„Du wärst jetzt sicher auch lieber bei deinen Hunden, oder?“, frage ich ihn.
„Da kannst du einen drauf lassen!“ Er lacht. „Aber Donnerstag sehe ich sie ja schon wieder.“
„Das ist ja toll.“ Ich strahle ihn an. „Hast du Ausgang?“
„Nein, ich werde entlassen.“
Die Beiläufigkeit, mit der er diese Tatsache erwähnt, ist wie ein Messerstich ins Herz. Lächelnd lässt er sich auf den äußersten Stuhl im Aufenthaltsraum fallen und greift nach einer Karteikarte, die man uns zum Beschriften auf den Tisch gelegt hat.
„Du wirst entlassen?“, frage ich, während ich mich neben ihn setze und ebenfalls nach einer Karte greife. „Wie lange bist du denn schon hier?“
„Vier Wochen. Es wird Zeit, endlich wieder arbeiten zu gehen.“
„Du gehst jetzt schon wieder arbeiten?“
„Ja.“ Er nickt. „Und ich freue mich drauf. Endlich wieder im Gabelstapler sitzen. Am meisten freue ich mich aber natürlich auf meine Hunde.“
„Das glaube ich“, antworte ich, krampfhaft darum bemüht, meine Enttäuschung zu überspielen.
„Und jetzt darf sich jeder von Ihnen ein paar Karten und einen Stift nehmen“, sagt
Weitere Kostenlose Bücher