Das Leben Zimmer 18 und du
Frau Geiss, als sich alle Teilnehmer gesetzt haben.
Ich greife nach einem grünen Buntstift und starre wortlos auf die leere Karte vor mir, während ich darüber nachdenke, was mich mehr schockiert: Die Tatsache, dass er entlassen wird oder dass es ihm scheinbar überhaupt nichts ausmacht, dass unser gerade erst entstandener Kontakt schon bald abbrechen wird.
Andererseits: Warum sollte es ihm leidtun? Wir kennen uns doch im Grunde gar nicht.
„Und?“ Frau Geiss strahlt über beide Ohren. „Hat jeder von Ihnen genügend Papier? Prima! Dann kann es ja losgehen.“
Ihre Worte und mit ihnen der Rest der Welt verschwimmen für einen Moment klanglos in meinem Kopf.
Donnerstag. Nur noch drei Tage.
*
„Um Himmelswillen, Nancy. So doch nicht!“ Franziska, eine Patientin, der ich bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe, nimmt mir die Stöcke aus der Hand und fuchtelt damit wichtigtuerisch vor sich her. „Beim Nordic Walking kommt es vor allem auf die Haltung an. Das ist mehr als einfaches Joggen oder Spazierengehen.“
„Na ja.“ Ich zwinkere ihr zu. „Wenn man die Sache ernst nimmt, vielleicht.“
„Aber so wie du sie hältst, sieht es aus, als wären es normale Wanderstöcke“, protestiert sie, während sie mir zeigt, wie man es richtig macht. „Siehst du? Soooo!“
Ich unterdrücke ein Grinsen. Sie scheint ernsthaft zu denken, dass mir diese scheinbar unverzeihliche Bildungslücke unangenehm ist.
„Danke.“ Ich nehme ihr die Stöcke aus der Hand. „Den Rest der Strecke schaffe ich sicher auch so.“
Ich lasse meinen Blick über den schmalen Waldweg schweifen, der in morgendlichem Glanz schneeweiß zu funkeln scheint. Carmen und die anderen Patienten sind schon ein Stück weiter vor uns, Franziska hingegen scheint als Einzige Mitleid mit mir und meinem nicht vorhandenen „Nordic-Walking“-Talent zu haben.
„Aber es ist ganz einfach.“ Sie nickt mir ermutigend zu. „Wirklich.“
„Schon okay. Aber ich glaube, den Zweck der Therapie verfehle ich nicht, indem ich die Dinger falsch halte.“
Franziska schüttelt seufzend den Kopf.
„Na ja“. Sie ringt sich ein Lächeln ab. „Was hat Frau Geiss gestern in der Depressionsrunde gesagt? Schwächen sind immer auch Stärken, oder? Wenigstens stehst du dazu, dass du das hier nicht kannst.“
Ich beiße mir auf die Lippe, während ich ihr dabei zuschaue, wie sie den anderen Teilnehmern folgt. Fragt sich nur, wer hier wirklich das arme Würstchen ist: Derjenige, der es mit sturer Verbissenheit zum Drama macht, wenn jemand nicht die hohe Kunst des Nordic Walking erlernen möchte oder derjenige, der bisher einfach Besseres zu tun hatte, als sich mit solchen Dingen zu beschäftigen und sich stattdessen an der Schönheit der Natur erfreut.
Für einen Moment verharre ich an meinem Platz und schaue den anderen hinterher, während er sich wieder in meinen Sinn schiebt. Seit der Depressionsrunde habe ich ihn nicht mehr gesehen und doch kreisen meine Gedanken immer wieder um ihn. Aber warum? Ich kenne ihn doch gar nicht. Und die Sache mit der besonderen Bindung? Habe ich mir das womöglich nur eingebildet?
Seufzend senke ich den Blick auf meine mit Schnee bedeckten Schuhe.
Reiß dich zusammen, Nancy! Du kennst ihn nicht. Außerdem ist er 18 Jahre älter als du – und du bist verheiratet. Alles, was dich interessieren sollte, ist eine schnelle Genesung.
„Hey!“ Carmen kommt freudestrahlend auf mich zu. „Ich glaube, ich geselle mich mal ein bisschen zu dir, wenn du nichts dagegen hast. Die anderen sehen mir das alles ein bisschen zu verbissen.“
„Na, Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich bin die Einzige, die den Kram hier nicht so ernst nimmt.“
Carmen rollt mit den Augen. „Eins steht jedenfalls fest: Wenn Franziska mir noch ein einziges Mal zeigt, wie man diese Dinger richtig hält, werfe ich sie zur Seite und gehe ohne weiter.“
Ich lache. „Wen wirfst du zur Seite, Franziska oder die Stöcke?“
„Na, die Stöcke. Aber wenn du mich so direkt fragst …“
Nun lachen wir beide.
„Komm!“ Ich schnalle mir die Stöcke um die Hände. „Lass uns weiter, bevor die anderen noch eine Vermisstenanzeige aufgeben.“
„Gute Idee.“ Carmen zwinkert mir zu. „Mit etwas Glück überholen wir die Streber sogar.“
*
Statusmeldung, 13. März 2013
Und wieder mal suche ich ihn für ein paar Minuten, den kleinen, feinen Draht zur Außenwelt und sende euch ein kleines Lebenszeichen aus der Klinik. In der Therapie sollten wir
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