Das Leben Zimmer 18 und du
unter anderem einen Spruch notieren, der uns Kraft gibt. Ich habe mich für den von Oscar Wilde entschieden. Meine krakelige Schrift verdanke ich übrigens den Buntstiften. Aber auch krakelige Buchstaben sagen (hoffentlich) die Wahrheit.
*
Was sich Oscar Wilde wohl dabei gedacht hat, als er feststellte, dass am Ende alles gut wird? Und dass es, sollte es noch nicht gut sein, eben noch nicht zu Ende ist?
Ich schiebe mein Handy nach dem Posten eines weiteren Lebenszeichens in meine Hosentasche und lehne mich gegen die kahle Wand des Stationsflurs. Der Nachmittag hat etwas Deprimierendes an sich. Seit der Depressionsrunde vor zwei Tagen habe ich nicht mehr mit ihm gesprochen. Bis auf ein flüchtiges „Hallo“ auf dem Flur fand keinerlei Konversation zwischen uns statt. Dementsprechend mies ist meine Laune.
Die Frage, wie es ein eigentlich Fremder schafft, derart wegweisend für meine aktuelle Stimmung zu sein, stelle ich mir mittlerweile nicht mehr. Stattdessen ertappe ich mich bei der Vermutung, warum Bastian bei unserer letzten Begegnung so schnell wieder auf seine Station musste: David. Er hat ihn mit mir zusammen neben dem Kaffeeautomaten sitzen sehen. Hand in Hand. Was hätte ich auch tun sollen, als David meine Finger mit seinen umschloss? Sie ihm entziehen?
Blödsinn! Warum sollte es Bastian interessieren, ob ich vergeben bin? Wir sind ja nur flüchtige Bekannte. Zwei Depressive am selben Ort. Zwei Menschen mit demselben Schicksal.
Weiter nichts. Vermutlich rede ich mir den besonderen Draht nur deshalb ein? Weil wir beide jemanden verloren haben. Weil wir beide durch denselben Schmerz krank geworden sind. Vielleicht ist das auch schon unsere einzige Gemeinsamkeit. Und selbst wenn da mehr ist, im Grunde spielt es keine Rolle – der Ring an meinem Finger spricht seine eigene Sprache. Eine Sprache, die ich seit mittlerweile fünf Jahren spreche und von der ich geschworen habe, sie für den Rest meines Lebens zu sprechen. Und zwar mit David.
Aber warum werde ich das Gefühl nicht los, dass zwischen Bastian und mir mehr ist? Dass das Ungesagte zwischen uns mehr zählt als das Gesagte? Dass wir uns nicht grundlos kennengelernt haben?
Seufzend schlendere ich über den Flur und lasse mich auf einen Stuhl im leeren Aufenthaltsraum fallen, während eine Frauenstimme im verschlossenen Zimmer neben dem Schwesternstützpunkt die Station zusammenbrüllt.
„Ich bin okay“, schreit sie. „Ich bin okaaaaaaaay!“
Immer und immer wieder.
Time-Out nennt sich das angsteinflößende Zimmer, welches für gewöhnlich als erster Aufenthaltsort für besonders angeschlagene Patienten herhalten muss. Ein Zimmer, das den anderen Patienten und Besuchern nicht selten eine Gänsehaut beschert.
„Ich bin okay!“, schallt es erneut über den Flur, während sich der letzte Ton mit kratziger Stimme wie ein stumpfes Messer durch die drückende Krankenhausluft schlägt: Okaaaaaaaaaaaaaaaaaaay!
Lethargisch lehne ich mich in meinem Stuhl zurück. Mein Blick wandert zum Fernseher an der Wand, der noch immer läuft. Eine für den Anlass etwas zu barbusige Reporterin berichtet über die anstehende Papstwahl und die Bekanntgabe des neuen Oberhauptes, die für den Abend angesetzt ist.
Wut überkommt mich. Verdanke ich die stetige Besserung meines Zustands denn tatsächlich allein den Gesprächen mit Bastian? Und will ich es wirklich zulassen, dass mir seine Entlassung diese Besserung jetzt wieder versaut?
„Ich bin okaaaaaaaaay!“
Das Gebrülle aus dem Time-Out lässt mich noch unruhiger werden.
Ja, Mädel, du bist okay! Ich hab’s gehört. Wir alle haben es gehört.
Ich schaue durch das Fenster auf den eingezäunten Hof hinaus. Die weißhaarige Frau mit der staubgrauen Strickjacke zieht ihre täglichen Runden über den gepflasterten Weg, der sich kreisförmig über den Rasen erstreckt. Auf der Bank am Zaun sitzen die Raucher und blasen schmutzige Wolken in die frostige Luft. Irgendwo fällt gerade ein Sack Reis um, ganz sicher.
„Ich bin okaaaaaaaaaay!“, dröhnt es erneut durch die verschlossene Tür.
Ich schlucke meine Unruhe herunter.
Eins.
Zwei.
Mein Blick klebt am Fernseher, der die Worte „weißer Rauch“ und „Petersplatz“ ausspuckt. Hyänenartiges Lachen aus dem Schwesternzimmer. Auf dem Tisch der Rest eines trockenen Kekses. Ein Windzug zwischen den Jalousien, als sich die Tür zum Hof öffnet.
„Ich bin okaaaaaaaaay! Ich biiiiiiin oooookaaaaaay!“
Eins.
Zwei.
Wutentbrannt springe ich auf.
Nur
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