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Das Leben Zimmer 18 und du

Das Leben Zimmer 18 und du

Titel: Das Leben Zimmer 18 und du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Salchow
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der einen fallengelassenen Papierfetzen beschnuppert. „Dafür freue ich mich viel zu sehr, dich zu sehen. Endlich mal jemand, dem ich nicht erklären muss, warum ich so bin, wie ich bin. Endlich jemand, der weiß, warum bestimmte Dinge eben nicht einfach so in Vergessenheit geraten, nur weil ein bisschen Zeit ins Land gezogen ist.“
    „Ich bin froh, dass du es so siehst. Es wäre mir wirklich unangenehm, wenn du oder jemand anderes denken könnte, dass ich … na ja, dass ich …“
    Seine Verlegenheit bringt mich unweigerlich zum Lächeln.
    „Bitte mach dir darüber keine Gedanken“, beruhige ich ihn.
    „Ich mache mir auch keine Gedanken. Es ist nur … ich will, dass du weißt, dass ich einfach nur reden möchte. Mit jemandem, der mich versteht. Mit jemandem, den ich verstehe.“
    „Und genau deshalb freue ich mich auch so, dass du da bist.“
    Eine Weile lang schweigen wir, während wir langsam weitergehen.
    Seine Schritte neben meinen scheinen so selbstverständlich und gleichzeitig so surreal. Ist das wirklich derselbe Mann, dem ich in den letzten Tagen eine so unangebrachte Aufmerksamkeit geschenkt habe? Eine Aufmerksamkeit, von der niemand, auch und gerade nicht er selbst, etwas ahnt?
    „Nächste Woche ist es ein Jahr her“, sagt er plötzlich.
    Ich weiß sofort, wovon er spricht.
    „Wirst du den Tag allein verbringen?“ frage ich vorsichtig.
    „Ein paar enge Freunde werden bei mir sein“, antwortet er leise. „Sie werden auch mit mir zum Friedhof fahren.“
    „Darf ich fragen“, ich stocke kurz, „wie deine Frau …“
    „Herzinfarkt“, antwortet er.
    Ich nicke stumm.
    „Aber das Schlimme ist, dass es tatsächlich Menschen in meinem Dorf gibt, die herumerzählt haben, dass sie sich umgebracht hat. Es ist echt grausam, wie manche Leute das Andenken an Verstorbene mit Füßen treten, indem sie so schwachsinnige Äußerungen von sich geben. Sie wissen gar nicht, was sie damit anrichten.“
    „Das kenne ich. Nur dass es bei meinem Bruder mehr um Gerüchte ging, die sich darauf bezogen, warum er nicht in unserem Dorf bestattet wurde. Er selbst hat sich gewünscht, in der Heimat seiner Freundin die letzte Ruhe zu finden, umso schäbiger finde ich, wenn sich Leute selbst über so ein heikles Thema Theorien zusammenspinnen, die absolut nichts mit der Wahrheit zu tun haben.“
    „Im Tratschen sind die Menschen eben ganz besonders gut.“ Er hält Max kürzer, als uns ein älteres Pärchen entgegenkommt. „Vielleicht, weil sich in ihrem eigenen Leben so wenig tut.“
    „Ich kann mich auch noch daran erinnern, wie sensationsgeil die Leute waren, als sich das Aussehen meines Bruders damals durch die Krankheit und die Medikamente so drastisch verändert hat.“ Ich versuche, mich abzuregen. „Aber besser, wir reden nicht darüber, dann werde ich bloß wieder wütend.“
    „Du darfst gern wütend werden.“ Bastian grinst. „Solange du es nicht auf mich bist.“
    „Warum sollte ich?“
    Unsere Blicke treffen sich für einen kurzen Moment, der den Rest der Welt ausblendet. Es ist kein wirkliches Lächeln, das uns verbindet, eher ein stummes Wissen, das unsere Blicke miteinander teilen.
    Oder rede ich mir wieder mal etwas ein? Sehe ich mehr, als da ist?
    „Ich kann es kaum erwarten, dass ich wieder draußen bin“, fahre ich nach einer Weile fort.
    „Ist es denn so schlimm da drinnen?“
    „Na ja, schlimm ist das falsche Wort. Es geht mir schon sehr viel besser als bei meiner Einweisung und zu Hause hätte ich die Einstellung auf die Medikamente vermutlich nicht so gut überstanden. Trotzdem hätte ich nichts dagegen, endlich wieder in meinem eigenen Bett zu schlafen. Keine festen Uhrzeiten, kein Essen von einem Tablett.“
    „Ich weiß, was du meinst. Ich genieße es auch, wieder frei zu sein, vor allem weil …“ Ein Niesen unterbricht seinen Satz.
    „Oh, das klingt aber gar nicht gut.“
    „Ich habe mich etwas erkältet“, erklärt er, während er ein Taschentuch aus seiner Jackentasche zieht. „Mir geht’s schon seit heute früh nicht so gut.“
    „Oh, das hättest du doch aber sagen können. Dann hätten wir das Treffen eben abgesagt.“
    „Nein nein, was ich verspreche, das halte ich auch. Außerdem …“, ein weiterer Nieser, „ist es so richtig schlimm erst seit heute Mittag.“
    Die Tatsache, dass er trotz Erkältung gekommen ist, rührt mich.
    Getragen von Geschichten gehen wir nebeneinander her. Geschichten über unsere Vergangenheit, über Verluste und Ängste.

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